Zweiter Weltkrieg in ItalienDas Wunder von Orvieto – wie der Mut eines Einzelnen eine Bergstadt rettete
Die Kriege der Gegenwart zeigen einmal mehr, wie Gewalt und Waffen alles zerstören – Menschen, Gebäude, Natur. In Orvieto kam es 1944 ganz anders.
Der heilige Benedikt steht im Kreuzgang, die Arme zum Himmel gestreckt. So soll er hier auf dem Monte Cassino gestorben sein, am 21. März 547. Vierzig Jahre lang hatte der Mann aus Umbrien im italienischen Süden gelebt, auf diesem Berg im Hinterland von Neapel. Hatte Menschen um sich geschart, einen Orden gegründet, Bäume gepflanzt und ein Kloster gebaut. Praktisch veranlagt, wie er war, funktionierte er einen bereits vorhandenen, römischen Tempel zum Bethaus um, damit begann es. Als er seine Kräfte schwinden spürte, liess er sich noch einmal in die Kirche bringen, so ist es überliefert, und hat die Arme eben so zum Himmel erhoben, wie es ihm seine Statue jetzt nachmacht.
An diesem Frühjahrsmorgen ist die Abtei von Montecassino fast leer. Dabei ist sie auch ein Wirtschaftsbetrieb, aber gerade ist Mittagszeit, Besucher streifen durch das Kloster, die Mönche haben sich hinter verschlossene Türen zur Mittagsrunde zurückgezogen, anschliessend werden sie beten. Eine Friedfertigkeit herrscht hier, wie man sie in der lauten Welt gerade sehr vermisst. Von oben kann man ins weite Tal blicken.
Nur war das nicht immer so. Vor 80 Jahren ist hier aus dem Himmel ein Inferno niedergekommen in Gestalt von rund 500 Tonnen amerikanischen Fliegerbomben. Die Mauern der Abtei zerbarsten, und nicht zum ersten, sondern bereits zum vierten Mal.
Die Italiener verjagten den «Duce»
Man schrieb das Jahr 1944, die Italiener hatten im Vorjahr geschafft, was den Deutschen bis zum bitteren Ende nicht gelingen sollte: ihren faschistischen Führer aus dem Amt zu jagen. Es hatte ihnen allerdings nicht sehr geholfen, Benito Mussolini regierte nun im Alpenvorland einen Kunststaat von deutschen Gnaden, und die Wehrmacht hatte Italien besetzt.
Doch das Ende war längst abzusehen, aus dem Süden rückten die Alliierten vor, die Deutschen hatten eine schwer befestigte Haltelinie quer durch den schmalen Stiefel gezogen, um dem Feind zu trotzen. Die Gustav-Linie verlief ausgerechnet am südlichen Hang des Berges Montecassino. Wer oben war, konnte weit sehen und weit schiessen. Von Januar bis Mai 1944 tobten die Kämpfe. Wer heute über die Klostermauer schaut, sieht unten einen Friedhof mit vielen weissen Kreuzen.
Der Ort Cassino unterhalb des Berges gehörte zu den am schwersten befestigten Bollwerken der Gustav-Linie. Der deutsche Oberbefehlshaber für Italien, Generalfeldmarschall Albert Kesselring, hatte es untersagt, das Kloster in die Verteidigungslinien einzubeziehen, eine Zone von 300 Meter rundherum wurde für neutral erklärt. Dennoch flogen US-Flugzeuge am 15. Februar 1944 einen Grossangriff mit rund 500 Tonnen Spreng- und Brandbomben. In drei Stunden wurde die Urstätte des Benediktinerordens bis auf die Grundmauern zerstört. Von den 780 Bewohnern, darunter viele Flüchtlinge, starben 250. Erst jetzt übernahmen die deutschen Truppen das Kloster und verschanzten sich hier noch drei Monate lang.
In seinem Weltkriegsbuch «Feuersturm» spricht der britische Historiker Andrew Roberts von «Vandalismus der Alliierten», schränkt aber ein: Es sei «wenig wahrscheinlich», dass die Deutschen bei einem ersten Angriff auf den Berg «ihre moralischen Skrupel nicht aufgegeben und darauf verzichtet hätten, die Abtei in den Häuserkampf einzubeziehen». Hohe alliierte Offiziere schrieben, der Luftangriff sei nötig gewesen, «um die Moral und Zuversicht der Soldaten zu stärken». Der kommandierende US-General Mark W. Clark sprach nachher von einem schweren Fehler. Er selbst hatte den Durchbruch bei Cassino unbedingt gewollt, um möglichst rasch als Befreier Roms Geschichte zu schreiben.
Der Vatikan protestierte jedenfalls scharf. Er bestätigte ausdrücklich, dass sich keine Soldaten in der Abtei befunden hätten. Später erklärte US-Präsident Franklin D. Roosevelt, die Abtei sei ein Artilleriestützpunkt gewesen. Der Krieg kennt viele Wahrheiten. Um den Berg mit den Ruinen des zertrümmerten Klosters wurde noch wochenlang gekämpft, erst am 18. Mai 1944 besetzten polnische Soldaten den Klosterberg.
Nach dem Krieg schwieg der Luftwaffenoffizier Lersen eisern
Dass es auch anders geht, kann man 240 km weiter nördlich studieren, in Orvieto. Einige Monate nach der Hölle von Cassino hatte sich die Front hierher verlagert. Rom war befreit, die Wehrmacht auf dem Rückzug. Nun gab es eine neue Abwehrlinie, welche die Alliierten aufhalten sollte. Und wieder befand sich ein geschichtsträchtiger Ort mitten im Kampfgebiet: Orvieto, wo einst die Etrusker lebten. Auch dies ein Ort oben auf dem Berg, diesmal eine ganze Stadt. Ein Opfer mit Ansage. Aber dann fiel kein Schuss, explodierte keine Bombe, stattdessen wurde die Stadt vollständig verschont, und sie bezaubert die Besucher heute mit einer Schönheit, die in Jahrhunderten gewachsen ist.
Wie genau es zu diesem «Wunder von Orvieto» kam, war lange nicht wirklich bekannt. Wer aber mehr darüber erfahren will, besucht am besten den Historiker Sandro Bassetti, der in der Nähe von Orvieto im Castello di Monte Rubiaglio lebt. Seine Wohnung in der historischen Turmanlage ist vollgestellt mit Fundstücken, Skulpturen, historischen Gemälden. Und wenn man es ganz genau wissen will, dann springt Bassetti auf und holt aus dem Arbeitszimmer immer neue Akten herbei. Er hat alles gesammelt über den Juni 1944, als Orvieto der Vernichtung entging, hat mehrere Bücher über die Geschichte der Stadt geschrieben; es ist sein Lebensthema.
Bassetti war es auch, der einen deutschen Luftwaffenoffizier namens Alfred Lersen dem Vergessen entriss. Der italienische Heimatkundler nahm mit der Familie des Deutschen im sächsischen Coswig Kontakt auf – und er hatte Informationen zu bieten, die der Familie völlig neu waren. Sohn Manfred erinnerte sich an einen strengen und eher unzugänglichen Vater, der wie viele seiner Generation ungern über das sprach, was er im Weltkrieg erlebt und getan hat. Bekannt war, dass er 1894 in Leipzig geboren wurde und später in der Chemieindustrie tätig war, und dass er lange als Soldat diente. Ein paar Fotos von Alfred in Uniform und der Hinweis, dass er gegen Kriegsende in Italien im Einsatz gewesen war, mehr wollte er nicht preisgeben.
In mühsamer Archivarbeit setzte Bassetti die Puzzleteile eines Lebens zusammen. Früh war der junge Lersen Berufssoldat geworden und hatte in zwei Weltkriegen an der Front eine stete Karriere bis zum Oberstleutnant der Luftwaffe gemacht. In der Zwischenkriegszeit war er im rechtsnationalen Stahlhelm organisiert, schon 1933 trat er in die NSDAP ein. Kein Spitzenmann der Nazis, aber immer ein treuer Anhänger des Systems.
Aus Polen war der erfahrene Kommandeur in der Spätphase des Krieges nach Italien versetzt worden und übernahm als Stadtkommandant die Verantwortung in Orvieto. «Er hatte freie Hand», so Bassetti, «was er mit dieser Stadt machen würde.» Dies wurde offenkundig massgeblich geprägt durch die vorsichtige Annäherung zweier Menschen, wie sie unterschiedlicher nicht sein konnten. Der Deutsche hatte sich mit dem Bischof von Orvieto, Francesco Pieri, angefreundet.
Jeden Tag sassen die beiden zusammen und tranken den weissen Wein von Orvieto, in der Kommandantur oder auf den Kirchenbänken, wo sie schon mal einem Orgelkonzert von Bach lauschten. Lersen hat darüber zeitlebens geschwiegen, auch der Bischof erwähnte die Treffen nicht, wohl aber tat das seine Sekretärin. Während dieses Austauschs – immer auf Latein – muss es gewesen sein, als der Stadtkommandant den einsamen Entschluss fasste, «sein» Orvieto zu retten. Er übergab dem Bischof die gesamte Befehlsgewalt über die Stadt und schickte, als die erste britische Panzerkolonne sich der Stadt näherte, einen Englisch sprechenden Offizier im Volkswagen mit weisser Fahne den Berg hinunter, um sein Angebot zu übermitteln, Orvieto gegen freien Abzug zu einer «offenen Stadt» zu erklären.
Auch Rom war zur offenen Stadt erklärt worden
Das Modell der offenen Stadt, vertraglich formuliert in Artikel 25 der Haager Landkriegsordnung, wurde in diesem Weltkrieg, der mehr als 50 Millionen Tote forderte, gelegentlich angewandt. Rom, die Ewige Stadt, war gerade, Anfang Juni 1944, vom deutschen Generalfeldmarschall Kesselring zur offenen Stadt erklärt und am 4. Juni von alliierten Truppen eingenommen worden. Was der dem NS-Regime treu ergebene Kesselring mit Berlin abgesprochen hatte, machte der nachgeordnete Offizier Lersen offenbar auf eigene Faust nach und riskierte damit sein Leben, hätte er sich je vor einem NS-Kriegsgericht verantworten müssen. Der britische Kommandeur stimmte zu, die Deutschen zogen sich exakt 20 Kilometer nach Norden zurück. Orvieto aber war gerettet, und die Ereignisse von 1944 gerieten in Vergessenheit.
Bis Sandro Bassetti die Vergangenheit aufarbeitete, Korrespondenz mit den damaligen Befreiern pflegte, Treffen in Orvieto organisierte. Und dann eines Tages zum Telefon griff und mit der Familie des mittlerweile Verstorbenen im sächsischen Coswig Kontakt aufnahm.
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