Zukunftsvisionen von früherWissen Sie noch, die Zeit vor dem Internet?
Es soll Leute geben, die sich nicht an ein analoges Leben erinnern können. Wir halten die Erinnerung wach und zeigen, wie schwer es revolutionäre Erfindungen anfänglich hatten.
Was haben die Leute gemacht, bevor es Smartphones gab? Ein Autor der Zeitschrift «The Atlantic» stellte im letzten Juli diese Frage ernsthaft in den Raum. Seine Erkenntnis: «Niemand kann sich mehr erinnern.» Diese Gedächtnislücke dürfte auch schuld an jenem Meme sein, dem ich neulich auf Facebook begegnet bin. In dem fragt einer ganz entgeistert, wie denn die Titanic einen Notruf absetzen konnte, wo «1912 das WLAN doch noch gar nicht erfunden war!».
Zukunftsvisionen aus dem «SRF-Archiv»
Dabei gibt es grossartige Möglichkeiten, die Erinnerung an jene dunkle Zeit wachzuhalten, als die Menschen im Zug noch keine Podcasts hörten, sich in fremden Orten mit Stadtplänen orientieren mussten und die Kunst beherrschten, mittels Kursbuch eine Bahnreise zu planen. Eine tolle Anlaufstelle ist der Youtube-Kanal «SRF Archiv» des Schweizer Fernsehens. Dort gibt es nicht nur Videos, die sich um den technischen Fortschritt drehen – aber die, die es tun, sind ausnahmslos grossartig.
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Ein Film von 1984 zum bargeldlosen Zahlen ist in mehrerer Hinsicht bemerkenswert: Er zeigt, wie eine aus heutiger Sicht völlige Banalität vor 40 Jahren eine futuristische Angelegenheit war. Nebenbei werden wir daran erinnert, dass das Datensammeln keine Erfindung des Internetzeitalters ist, sondern von den Grossverteilern schon in den 1980er-Jahren mithilfe der Kundenkarten praktiziert wurde. Dass jemand deswegen Datenschutzbedenken haben könnte, war der Branche damals nicht bewusst.
Diese Archivperle führt uns auch das Minitel vor: Das war ein französischer Onlinedienst, der es erlaubte, übers Telefonnetz ein SNCF-Billett zu kaufen und bargeldlos zu bezahlen. Das revolutionäre Potenzial dieser Erfindung abseits des Einkaufens und Zahlens hatten die Schweizer Fernsehmacher damals aber nicht auf dem Schirm: Was eine Onlineverbindung für die Kommunikation und Informationsvermittlung bedeuten könnte, ging völlig unter.
Zeitungen: Den Macintosh verschlafen
Auch die digitalen Archive geben einen fassbaren Eindruck des analogen Lebens. Auf www.e-newspaperarchives.ch (weitere Empfehlungen finden Sie hier) lassen sich alte Zeitungen aufstöbern. Sie vermitteln einen Eindruck davon, wie lange die Medienschaffenden gebraucht haben, um von grossen Trends Kenntnis zu nehmen: Der 1984 lancierte Macintosh war hierzulande in den Zeitungsredaktionen noch kaum ein Thema, selbst als Apple und viele Computerverkäufer schon fleissig Inserate für ihn geschaltet haben.
In anderen Bereichen herrschte viel zu viel Euphorie. Die NZZ berichtete am 21. Mai 1973 gross über eine bahnbrechende Neuheit aus dem Fernmeldewesen (die Idee war auch damals schon über 80 Jahre alt). Siemens hatte das Videoset 101 lanciert, ein Bildtelefon. Es hatte einen klotzigen Aufsatz mit Kamera und Bildschirm und eine Auflösung von 267 Zeilen. Genug, damit «auch kleine Details noch zu erkennen sind», befand die NZZ. «Im öffentlichen Fernsprechverkehr der Bundesrepublik Deutschland ist nicht vor 1980 mit der Aufnahme eines Bildfernsprechbetriebs zu rechnen», prognostizierte die Zeitung in scheinbarer Zurückhaltung. Nein – denn nebst weiteren vierzig Jahren sollte auch eine Pandemie nötig sein, damit wir uns an Zoom, Facetime und Gespräche vor der Videokamera gewöhnen würden.
Die verrückte Zukunftsvision von 1966
Ich habe auch eine grossartige Zukunftsvision aus der Vergangenheit gefunden. Sie ist am 17. Juni 1966 im «Migros-Magazin» erschienen, das damals noch «Wir Brückenbauer» hiess. Sie beschreibt, wie die Digitalisierung unsere Häuser und Wohnungen erfassen wird: «Der Kern, das Gehirn und das ‹Gewissen› dieser Wohnung ist der Heim-Computer, etwa von der Grösse einer Schreibmaschine, der ebenso vom Hauseigentümer beigestellt und instand gehalten wird, wie heute etwa der Kühlschrank.» Für diesen Heim-Computer würde man keine eigenen «Programmierer» benötigen. Er werde die Sprache der Menschen in die der Computer übersetzen können, denn er werde in der Lage sein, «Gedrucktes, Maschinengeschriebenes und selbst halbwegs leserliches Handschriftliches lesen und selbst ‹übersetzen› können.»
Dieser Computer führt das Haushaltsbudget, regelt wie das Smarthome heute Beleuchtung und Klima, und er sorgt auch für mediale Unterhaltung – Netflix und Spotify lassen grüssen. Nicht alles ist akkurat in dieser Prognose. Der (nicht namentlich genannte) Autor hatte auch die Vorstellung, der Computer würde vorgekochte und im Keller gelagerte Speisen automatisch und pünktlich zum Zmittag und Znacht auf den Familientisch bringen.
Aber das kommt vielleicht noch. Es bleibt die Lehre, wie sehr es sich lohnt, sich ans analoge Leben zurückzuerinnern. Und uns darüber zu wundern und zu freuen, wie damals die Zukunft ausgesehen hat, in der wir heute leben.
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