60 Jahre KompaktkassetteWie die Kassette bis heute nachhallt
So fehleranfällig er auch war und so lausig die Tonqualität auch wirkte: Der Tonträger hat unsere Hörgewohnheiten so nachhaltig geprägt – fünf Belege dafür.
Am 28. August 1963 hat der niederländische Elektronikkonzern Philips die Kompaktkassette der Weltöffentlichkeit vorgestellt: Pocket Recorder EL 3300 hiess das Gerät, das mit den dazu passenden Bandkassetten (den EL1903) an der Internationalen Funkausstellung (IFA) in Berlin zu sehen war. Massgeblich beteiligt an der Entwicklung war der Ingenieur Lou Ottens, der später die Audio-CD auf den Weg gebracht hat. Er ist 2021 gestorben.
Manche Medien berichteten zum 60-Jahr-Jubiläum von einem Revival. Lady Gaga etwa hat ihr 2020er-Album «Chromatica» auch auf Kassette veröffentlicht. Doch das bleiben Einzelphänomene, denn die Kassette als Tonträger ist wirklich tot. Was weiterlebt, ist ihr Vermächtnis – auch im digitalen Zeitalter.
Mobiles Musikhören
Bis zum legendären Sony-Walkman musste sich die musikbegeisterte Jugend zwar noch bis zum Juli 1979 gedulden. Trotzdem hat auch schon das allererste Kassettengerät keinen Zweifel daran gelassen, dass dieses Medium für den mobilen Gebrauch gedacht ist. Batteriebetrieben und viel kompakter als ein Plattenspieler oder eine Bandmaschine, war er dazu gedacht, auch ausserhalb der Wohnstube benutzt zu werden. Wer durch den Walkman dazu gebracht worden ist, im öffentlichen Verkehr und überall Musik zu hören, für den ist das Smartphone mit den drahtlosen Ohrstöpseln die logische Fortsetzung dieser Tradition.
Das Mixtape
«Home Taping Is Killing Music» hat die Musikindustrie in den 1980ern gejammert: Das Aufnehmen zu Hause kille das Geschäft. Und es mag sein, dass durchs Aufnehmen ab Radio den Plattenfirmen ein paar Single-Verkäufe entgangen sind. Aber über alles gesehen, hat die Branche profitiert: Denn ein liebevoll zusammengestelltes Mixtape hat den emotionalen Wert der Musik stark gesteigert. Und zwar ganz unabhängig davon, ob die Kassette nun zum Eigengebrauch oder als Symbol der Zuneigung für einen anderen Menschen gedacht gewesen ist. Die Künstler, die in einem solchen, selbst erschaffenen Werk vertreten waren, durften sich unserer unverbrüchlichen Treue sicher sein – sodass wir heute gewillt sind, bei einer Tournee aus nostalgischen Gründen auch Preise in dreistelliger Höhe für ein Konzertticket hinzublättern.
Die logische Folge des Mixtapes ist die öffentliche Wiedergabeliste beim Streamingdienst – und die Erkenntnis, dass die Zeit längst vorbei ist, in der der DJ im Radio das Programm bestimmt hat.
Die Hörspiel-Revolution fürs Kinderzimmer
Auch im Kinderzimmer hat die Kompaktkassette eine nachhaltige Revolution entfacht: Ob Kasperli, «Die drei ???», «TKKG» oder «Räuber Hotzenplotz»: Die Hörspiele auf Kassette für Kinder und Jugendliche waren nicht einfach nur eine weitere Medienform, die für Abwechslung neben Büchern und Comics gesorgt hat. Nein, Ines Torelli, Jörg Schneider und Paul Bühlmann waren prägend für ganze Schulgenerationen, die sich ganze Stücke auf dem Pausenplatz vorgespielt haben. Und auch wenn sich manche heute über politisch unkorrekte Passagen in manchen Hörspielen empören, so bleibt doch festzuhalten, wie identitätsstiftend diese Mediengattung war und bis heute ist.
Die tiefe Audioqualität
Die Kassette hat geeiert und geleiert und auch mit Dolby B und C, Azimut-Justierung und den teuren Ferrochrom- oder Reineisenbändern war die Tonqualität immer bescheiden: Störendes Hintergrundrauschen und ein uneinheitlicher Frequenzgang zeichneten dieses Medium aus – ganz abgesehen davon, dass die Bänder anfällig für mechanische Beschädigungen waren, die den Hörgenuss weiter beeinträchtigt oder sogar verunmöglicht haben. Allerdings waren auch die ersten digitalen Audiodateien noch mit vielen akustischen Mängeln behaftet. Und wer weiss – vielleicht hätte die MP3-Revolution nie stattgefunden, wenn die Kassettengeneration diesbezüglich nicht so hart im Nehmen gewesen wäre.
Vom Konsumenten zum Hersteller
Schon der allererste Kassettenrekorder wurde mit Mikrofon geliefert. Der Pocket Recorder EL 3300 und seine Nachfahren boten eine niederschwellige Möglichkeit, sich selbst aufzunehmen. Das eröffnete ein riesiges Tummelfeld, nicht nur für Heimmusiker und Hobbysänger. Viele von uns dürften sich auch mal als Radiomoderator versucht und vielleicht Gefallen an einer Medienkarriere gefunden haben. Wir haben als Teenager Dutzende Hörspiele aufgenommen. Da wir kein Script, keinen Regisseur und auch keine Möglichkeiten für eine Nachbearbeitung hatten, würde das heute vielleicht als Stand-up-Comedy durchgehen.
Bei Youtube, Tiktok und Steam gehört es dazu, dass die Grenzen zwischen Konsument und «Creator» fliessend sind. Aber es wäre falsch, das als Errungenschaft der digitalen Ära zu bezeichnen. Schon analog konnte man selbst inszenieren und Freunde, Bekannte und Familie damit drangsalieren. Was fehlte, waren die Verbreitungsmöglichkeiten, sodass wir damals nicht entdeckt und keine Stars oder Influencer geworden sind.
Fehler gefunden?Jetzt melden.