Zeitung unter SparzwangVon der Euphorie bei «Le Temps» ist nicht mehr viel übrig
Dank Philanthropen hoffte die Westschweizer Tageszeitung auf einen Aufschwung. Stattdessen muss sie nun rigoros sparen.
«Ein monströs historischer Tag», «eine Premiere in der Schweiz»: Das schrieben Journalistinnen und Journalisten der Westschweizer Zeitung «Le Temps», als der Zürcher Verlag Ringier Axel Springer Schweiz bekannt gab, er verkaufe den Titel an die Genfer Sammelstiftung Aventinus. «Eine Stiftung übernimmt einen Pressetitel, ohne Gewinnabsichten, um ihm das Überleben zu sichern und zu prosperieren», schrieb eine «Le Temps»-Kolumnistin euphorisch. Die Redaktion hatte das Gefühl, «ihre» Zeitung endlich zurückzubekommen. Der Kaufpreis blieb geheim. Das war Anfang November 2020.
Seit dem 1. Januar 2021 besitzt die Fondation Aventinus die Zeitung definitiv. Ihr Kapital stammt von der Rolex-Stiftung Hans Wilsdorf und den Stiftungen Leenaards und Jan Michalski sowie fünf Genfer Banquiers.
Heute zeigt sich: Von der ursprünglichen Euphorie ist nicht mehr viel übrig. Die Redaktion realisiert: Auch mit philanthropisch tätigen Stiftungen im Rücken ist die Zeitung Marktgesetzen ausgesetzt.
Ende August kündigte «Le Temps» ein Sparprogramm von 1,5 Millionen Franken an. Man reduziere die Kosten, kürze beim publizistischen Angebot aber nichts, hiess es in einer Medienmitteilung. Sie wurde in der eigenen Zeitung nicht gedruckt und auf der Website diskret platziert.
Gemäss Recherchen dieser Redaktion lag der Sparbetrag im Frühsommer noch unter 1 Million Franken. Auf Anfrage schreibt eine Unternehmenssprecherin: «Das Sparziel von 1,5 Millionen ist im schwachen Werbesommer 2023 festgelegt worden, um den zukünftigen Finanzierungsbedarf von ‹Le Temps› zu reduzieren.»
Sparen bei den Renten
Gemäss Recherchen wurden zwei Journalistinnen und eine Verlagsmitarbeiterin entlassen. Um weitere Entlassungen zu vermeiden, reduzierten einzelne Redaktionsmitglieder ihre Pensen. Die Unternehmensleitung beschloss darüber hinaus, die Pensionskassenbeiträge zu kürzen. Die Personalkommission wehrte sich dagegen. Darauf legte die Unternehmensleitung ein Rechtsgutachten vor, das ihr bescheinigte, den Kürzungsentscheid unilateral fällen und durchsetzen zu dürfen.
Im Mediencommuniqué schreibt Geschäftsführer Tibère Adler: «Beim Rentenplan haben wir gemessen an der Gesamtsituation die richtige Massnahme getroffen: ‹Le Temps› kann keinen Rentenplan mehr finanzieren, der dem Niveau eines internationalen Konzerns entspricht. Der neue Rentenplan ist auf einem guten Niveau und entspricht einem regionalen KMU.»
Ende Oktober wird Geschäftsführer Adler das Unternehmen verlassen. «Dieser Entscheid eröffnet ‹Le Temps› die Perspektive, sein Management zu verjüngen», heisst es in einer Medienmitteilung zu seinem Abgang.
Redaktion übt heftige Kritik
Doch die Atmosphäre im Unternehmen bleibt angespannt. Das verdeutlicht die Stellungnahme der Personalkommission auf das Communiqué nach dem Sparentscheid. Dort steht, man sei sich der Ausnahmesituation bewusst, ein von einer gemeinnützigen Stiftung finanziertes Medienunternehmen zu sein, doch «die aktuelle Situation ist auch das Ergebnis von fragwürdigen Managemententscheidungen und einer globalen Unternehmensstrategie, die als gescheitert angesehen werden kann». Aus Sicht des Personals hat die Unternehmensleitung die Zeitung politisch zu weit nach rechts gerückt.
«Ich erachte es als normal, dass die Debatten innerhalb der Redaktion manchmal heftig sind.»
Chefredaktorin Madeleine von Holzen widerspricht dieser Auffassung. «‹Le Temps› nimmt keine politische Position ein», schreibt sie auf Anfrage. Man fördere vielmehr «die Vielfalt der Standpunkte». Auch den Vorwurf fragwürdiger Entscheidungen weist sie zurück. «Ich erachte es als normal, dass die Debatten innerhalb der Redaktion manchmal heftig sind», so von Holzen. Es sei «ein kollektiver Effort, die Entwicklung von ‹Le Temps› fortzusetzen.»
Und was sagt die Stiftung Aventinus dazu? Unmittelbar nach der Übernahme von Ringier sagte François Longchamp (FDP), Stiftungspräsident und ehemaliger Genfer Regierungspräsident: «In den turbulenten Zeiten, die die Medienwelt derzeit durchlebt, werden wir dem Redaktionsteam der Tageszeitung helfen können, diesem Titel eine langfristige wirtschaftliche Zukunft zu sichern.» Heute sagt Longchamp, seit ihrer Gründung sei die Aventinus-Stiftung «dem Grundsatz verpflichtet, sich nicht in die redaktionelle oder administrative Ausrichtung der Zeitung einzumischen».
Personen im Umfeld der Stiftung wünschen sich hingegen ein Eingreifen der Geldgeber, wie ein einflussreicher Bankier signalisiert. Der Redaktion fehle es an Kompetenzen für den digitalen Wandel. Sie erreiche ihr am internationalen Geschehen orientiertes Publikum zu wenig.
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