Nato-BeitrittZeitenwende auf Schwedisch – Neutralität endet nach 205 Jahren
Der Abschied von der Neutralität schmerzt die Schweden womöglich weniger als die Zugeständnisse an die Türkei.
Was auch immer man davon halten mag, es ist ein historischer Tag für Schweden. Nach 205 Jahren der Neutralität tritt das Land einem Militärbündnis bei, der Nato. Natürlich, Schweden war auch in den vergangenen Jahren tief eingebunden in internationale Zusammenarbeit. Dieser Schritt ändert dennoch viel, in der Zusammenarbeit mit den Nato-Ländern genauso wie in der Selbstwahrnehmung.
In Schweden fragen viele, ob das Land einen zu hohen Preis für das Einlenken des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan zahlen muss, der die Nato-Aufnahme blockiert hatte. Bislang hatte Schweden die türkische Regierung immer wieder für den Abbau der demokratischen Strukturen und die Verfolgung politisch Andersdenkender kritisiert, oppositionelle Gruppierungen innerhalb der Türkei unterstützt und vielen Kurden Zuflucht gewährt.
Stockholm hat Unterstützung der Kurden aufgekündigt
Seit dem Nato-Antrag bezeichnet die Regierung in Stockholm die Türkei regelmässig als Demokratie, das Waffenembargo wurde aufgehoben, und die Regierung hat auch alle Unterstützung der Kurden aufgekündigt. In einer gemeinsamen Erklärung verpflichtete sich Schweden am Montagabend erneut, die Türkei sowohl in deren Kampf gegen den Terror zu unterstützen als auch bei ihren Bemühungen, die EU-Beitritts-Gespräche wieder in Gang zu bringen. Schwedens Ministerpräsident Ulf Kristersson sagte beim Gespräch mit Erdogan in Vilnius ausserdem zu, dass man sich für Visa-Liberalisierungen einsetzen wolle. (Lesen Sie zum Thema auch die Analyse «Es ist ein Nato-Beitritt von Erdogans Gnaden».)
In einem sind sich die Kommentatoren einig: Mit dem Nato-Beitritt geht eine grosse Ära zu Ende. Schweden bezeichnete sich in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg selbst als «moralische Grossmacht». Wie es der Schriftsteller Richard Swartz einmal ausdrückte: «Mein Land war gegen Militarismus, Wettrüsten, Atomwaffen und für jedwede Abrüstung, alles mit einem unausgesprochen pazifistischen Unterton. Die Nato war – im Prinzip – nicht besser als der Warschauer Pakt. Mit keinem der beiden wollten wir etwas zu tun haben. Bestenfalls würden wir uns an friedenssichernden Militäreinsätzen unter UNO-Führung beteiligen.»
Der potenzielle Feind war immer klar: Kein anderes Land hat so viele Kriege gegen Russland geführt wie Schweden.
Gleichzeitig gab Schweden in der Zeit des Kalten Krieges über viele Jahre mehr als drei Prozent seines Bruttosozialprodukts für Rüstung aus und exportierte weltweit enorm viele Waffen. Es gab die allgemeine Wehrpflicht, Kriegsdienstverweigerung war so gut wie unbekannt. Der potenzielle Feind war dabei stets klar: Kein anderes Land hat so viele Kriege gegen Russland geführt wie Schweden. 1809 hat das Land ein Drittel seiner Landmasse und ein Viertel der Bevölkerung verloren, als Zar Alexander I. das heutige Finnland eroberte.
Wie in anderen westlichen Ländern auch wurde dann nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion die Armee stark verkleinert, der Anteil der Verteidigungsausgaben am Bruttosozialprodukt sank von 2,6 Prozent im Jahr 1990/91 auf 1 Prozent im Jahr 2017. Die Wehrpflicht wurde 2010 abgeschafft, allerdings beschloss der Reichstag bereits sieben Jahre später, sie teilweise wieder einzuführen. Es fehlt momentan vor allem an Personal, inklusive Reservisten umfasst die Armee zurzeit gerade mal 55’000 Männer und Frauen. Bis 2030 soll sie auf 90’000 Menschen anwachsen. Das 2-Prozent-Verteidigungsausgabenziel der Nato will die Regierung aber schon 2026 erreichen.
Material der Armee ist modern
Kjell Engelbrekt, Professor für Politikwissenschaft und Dekan der Verteidigungsakademie in Stockholm, sagte im Gespräch mit unserer Redaktion, die schwedische Armee bringe «einige der weltweit modernsten U-Boote und Kampfflugzeuge mit, die überhaupt auf dem Markt sind». Dasselbe gelte für Artillerie, Kampffahrzeuge, Panzer- und Schiffsabwehrwaffen. Die Gripen-Kampfjets stammen aus eigener Produktion, die U-Boote sind ideal ausgelegt für die flachen Gewässer der Ostsee.
Der wahrscheinlich wichtigste Beitrag ist aber die Lage in der Mitte Skandinaviens, nah am Baltikum: Finnland ist nicht mehr geopolitisch isoliert, Gotland die zentrale Insel in der Ostsee, Transportwege auch in die baltischen Länder werden deutlich kürzer, die Suwalki-Lücke, der Korridor an der polnisch-litauischen Grenze zwischen Weissrussland im Osten und dem russischen Kaliningrad im Westen, ist nicht mehr die Achillesferse der Nato.
Schweden folgte Finnland
Was mittlerweile gern vergessen wird: Noch im November 2021 hatte der damalige sozialdemokratische Verteidigungsminister Peter Hultqvist einen potenziellen Nato-Beitritt kategorisch abgelehnt: «Ich werde mich auf keinen Fall, solange ich Verteidigungsminister bin, an einem solchen Prozess beteiligen. Das kann ich jedem garantieren.» Selbst als Russland die Ukraine überfallen hatte, dachte die damalige Ministerpräsidentin Magdalena Andersson zunächst, man müsse den Neutralitätskurs beibehalten: «Jetzt ist nicht die Zeit zum Wackeln», sagte sie kurz nach Kriegsbeginn. Die schwedische Regierung wollte damals die finnisch-schwedische Militärallianz stärken.
Wenige Wochen später signalisierten aber die benachbarten Finnen, dass sie einen Nato-Antrag stellen würden, notfalls auch allein. Am 12. Mai 2022 sagte derselbe Peter Hultqvist dann: «Wir können nicht das einzige Land in den nordischen Ländern sein, das nicht beteiligt ist. Wir werden dann nicht in der Lage sein, Teil einer echten Verteidigungsplanung zu sein.» Kurz darauf reichten Schweden und Finnland gemeinsam ihre Nato-Anträge in Brüssel ein.
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