Debatte um Starautorin Virginie Despentes Gewalt ist in ihrem Werk zentral
Die französische Autorin Virginie Despentes wagt es in ihrem neuen Roman, einem sexistischen Autor ebenso eine Stimme zu geben wie seinen Opfern. Auf die Longlist des wichtigsten Literaturpreises hat sie es damit nicht geschafft.

Ihre Wut brennt nicht mehr so heftig wie in früheren Jahren, ist nicht mehr ihre tägliche Begleiterin, auch wenn Gewalt bis heute zentral ist in ihrem Werk: Das erzählte die Autorin Virginie Despentes jüngst im TV-Gespräch über ihren neuen Roman «Cher Connard» («Lieber Scheisskerl»). Dieser wird derzeit in Frankreich als das grösste Ereignis des literarischen Herbsts gefeiert und wie verrückt gekauft. Trotzdem gibt es einen Aufreger dazu.
2022 geht es allerdings nicht mehr darum, dass die 53-jährige Ikone des literarischen Punks wieder Tabus gebrochen hätte, dass sie stilistisch und feministisch arg risqué unterwegs gewesen wäre. Sondern im Gegenteil: Man ist empört, dass «Cher Connard» es nicht auf die Longlist des wichtigsten Literaturpreises, des Prix Goncourts, geschafft hat.

Wollte man sich nicht die Finger verbrennen an einem Buch, das sich mit dem Sexismus im Literatur- und Theaterbetrieb auseinandersetzt? Das zudem gegen allzu simple #MeToo-Muster löckt? Der Präsident der Académie Goncourt sah sich jedenfalls zur Reaktion gezwungen und erklärte, dass Despentes elfter Roman nicht aus ästhetischen, sondern aus ethischen Gründen nicht zur Debatte stehe: Von 2016 bis 2020 war die feministische Autorin selbst Mitglied der Goncourt-Jury. Der Präsident unterstrich, mit dem Ausschluss wolle die Jury keineswegs signalisieren, dass sie «Cher Connard» nicht geliebt habe – «au contraire …», das Gegenteil sei der Fall.
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Tatsächlich gelingts dem Roman, der nun nach fünfjähriger Romanpause erschien, sehr unterschiedlichen Perspektiven Gewicht zu verleihen. Die französische Kulturszene ist angesichts vieler #MeToo-Vorwürfe gespalten, Schauspielerin Catherine Deneuve etwa kritisierte anfangs den «neuen Puritanismus», während Berufskollegin Juliette Binoche der #MeToo-Bewegung den Rücken stärkte. In «Cher Connard» kommt nun eine 50-jährige Schauspielerin zu Wort, die bitter ihr Verschwinden konstatiert: «Es ist nicht das Publikum, das entscheidet, dass für Frauen meines Alters keine Rollen verfasst werden. Es handelt sich um ein anderes Gesetz.»
Adressat ihres Zorns ist ein suchtkranker Autor in den Vierzigern, der mit einem beleidigenden Post über eben diese Schauspielerin Aufmerksamkeit für sich selbst hatte generieren wollen. Seine Zeit des Ruhms ist gleichfalls vorbei; und er hat vergessen, wie übergriffig er sich damals verhielt. Doch eine ehemalige Medien-Referentin seines Verlags erinnert ihn via Social Media wütend daran. Ein #MeToo-Shitstorm spült über ihn hinweg.
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Während sich wüste Abgründe auftun, entwickeln die Protagonisten Verständnis füreinander. Im TV-Gespräch beschrieb die Romancière mit dem grossen Tattoo auf einem Arm ihre Literatur als Versuch, Gewalt «zu verstehen und sich zu versöhnen» statt selbst gewalttätig zu werden. Kämpferisch war die Tochter engagierter Gewerkschaftsmitglieder immer. Unangepasst, zeitweilig als Prostituierte tätig, schrieb sie sich 1994 die Erfahrung einer Vergewaltigung im Debütroman «Baise-moi» von der Seele. Später verfilmte die Künstlerin, die mit 35 Jahren ihr Coming-out hatte, dieses Kultbuch und schuf weitere gesellschaftskritische, autobiografisch grundierte Werke, zuletzt die «Vernon Subutex»-Trilogie. Virginie Despentes ist so gross, dass sie den Goncourt-Preis gar nicht braucht.
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