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Protest in Zürich
Über 1000 Menschen demonstrieren trotz Regen für fairen Wohnraum

4.11.2023 Wohndemo in Zürich.
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Mani Matters «Dynamit» wärmt die Demonstrierenden. Und ein Gemisch aus Instantkaffee und Rum, das eine Gruppe auf einem Campingherd aufwärmt.

Um 15 Uhr am Samstag strömen immer mehr Menschen unter Regenschirmen auf den Turbinenplatz und laufen später zum Helvetiaplatz. 5000 Menschen sollen es gewesen sein, schreiben die Initiantinnen. Mehr als 1000 waren es bestimmt. Es kam zu keinen grösseren Sachbeschädigungen oder Angriffen auf die Polizei. Nur einen mitgebrachten «Miethai» zertrümmerten die Demonstrierenden symbolisch.

Verschiedene Organisationen haben zur bewilligten «Grossdemo gegen die Wohnungskrise» aufgerufen. Eine letzte ähnliche Veranstaltung gab es zuletzt 2013, als rund 3000 Menschen gegen die Verdrängung aus der Stadt demonstrierten.

4.11.2023 Wohndemo in Zürich.

Eine 5,5-Zimmer-Wohnung für 6400 Franken

Mathias Vetter hat die Kapuze tief ins Gesicht gezogen. Der 53-jährige Musiker war dieses Jahr selbst auf Wohnungssuche. Nach 16 Jahren in seiner Wohnung im Kreis 3 musste er ausziehen: Totalsanierung. Es sei für ihn sehr schwierig gewesen, eine neue Wohnung zu finden, sagt er. Als Musiker habe er ein tiefes Einkommen, und trotzdem wolle er in der Stadt in einer WG leben und mit dem Fahrrad zu seinem Studio fahren können. Er habe unglaubliches Glück gehabt, sagt Vetter. Seit zwei Monaten wohnt er in einer Stadtwohnung.

4.11.2023 Wohndemo in Zürich. Im Portrait Mathias Vetter.

«Wir bleiben im Heuried», steht auf einem roten Ballon, den eine Frau im Regen auf dem Turbinenplatz hält. Die Siedlung in Wiedikon mit 100 Wohnungen soll in den nächsten zwei Jahren einem Neubau weichen. Der Immobilienfonds der Credit Suisse argumentiert mit ökologischen Überlegungen. Eine Gruppe hält ein Emoji hoch, das Geld kotzt. Mani Matter verstummt, und ein Redner erzählt auf einer Wagenbühne von einer 5,5-Zimmer-Wohnung in der neuen Überbauung Austrasse, die gerade für 6400 Franken pro Monat vermietet wird. Buhrufe der Demonstrierenden.

Katerina Vesela ist 27 Jahre alt und wohnt seit drei Jahren in Zürich. Sie studiert Sozialwissenschaften und ist schon fünfmal umgezogen. In Prag, wo sie herkommt, sei die Wohnungskrise genauso schlimm, sagt sie. Vor vier Monaten hat sie durch Freunde eine neue Wohnung gefunden. Doch es gebe viele Menschen mit Migrationshintergrund, die noch kein grosses Netzwerk und deshalb eine sehr schwache Position auf dem Wohnungsmarkt hätten.

4.11.2023 Wohndemo in Zürich. Im Portrait Katarina Vesela.

Die Initiantinnen der Demonstration fordern «Wohnraum für alle». Weder Einkommen noch Vermögen solle entscheiden, wer wo lebe. Der Wohnraum sei keine Ware. «Wir haben genug von immer längeren Menschenschlangen bei Besichtigungen und davon, dass mehr und mehr Menschen ihr Zuhause und ihr soziales Umfeld verlieren», hiess es in der Ankündigung.

4.11.2023 Wohndemo in Zürich.

Das Mietenplenum Zürich, ein loses Bündnis, äusserte im Vorfeld konkretere Forderungen. Kostenlose Anwältinnen bei Mietrechtsfällen etwa. Das Recht, bei Sanierungen oder Umbauten zu bezahlbaren Mieten zu bleiben. Und eine Obergrenze für Bodenpreise oder einen Mietpreisdeckel als Notlösung. Ausserdem macht sich das Mietenplenum für politische Initiativen stark, etwa für die Wohnschutzinitiative des Mieterverbands Zürich, der SP, der Grünen und der AL.

4.11.2023 Wohndemo in Zürich.

Mieten sind in den vergangenen Jahren stark gestiegen

Diesen Juni standen in der Stadt Zürich gerade mal 144 Wohnungen leer, was 0,06 Prozent ausmacht. Der Leerstand ist rückläufig.

Eine Studie, welche die kantonale Fachstelle für Volkswirtschaft diesen September vorstellte, zeigt: In den vergangenen 15 Jahren haben sich die Mieten bei neu abgeschlossenen Mietverträgen im Kanton Zürich um 25 Prozent erhöht. In der Stadt sind es gar 39 Prozent.

Trotzdem bezahlen die Zürcherinnen und Zürcher laut der Studie nicht wesentlich mehr fürs Wohnen als noch vor 20 Jahren. Der Anteil der Miete am Bruttoeinkommen ist im Kanton Zürich seit 2003 von 20,6 auf 21,6 Prozent gestiegen. Dies, weil auch die Löhne angestiegen sind.

Gerade für die Haushalte mit den geringsten Einkommen lägen die Wohnkosten aber seit Jahren über der Grenze des Erträglichen. 35 Prozent ihres Einkommens müssten diese für die Wohnkosten ausgeben. Die Studienautorinnen erwarten zudem, dass die Mietpreise weiter ansteigen.

Engagement auf den Strassen nimmt ab

Wohndemos haben in Zürich eine lange Tradition. Aus dem Landesstreik 1919 resultierten Reformen der Wohnbaupolitik. So richtig formierte sich die Wohnbewegung in den 80er-Jahren. Der Historiker Thomas Stahel hat die Wohnungsbewegungen in Zürich untersucht. Er sagt: «Insgesamt nahm in den 2000ern das Engagement der Zürcherinnen und Zürcher auf der Strasse ab.» Dies, obwohl die Wohnungssituation heute mindestens so prekär sei wie in den 80er-Jahren. Eine abschliessende Erklärung dafür hat er nicht.

1989 war die Blütezeit der Zürcher Wohnbewegung; mehrmals im Jahr zogen Tausende durch Zürichs Strassen.

Rentnerin Anne Wunderle (72) ist von Winterthur an die Zürcher Wohndemo gekommen. Sie selbst wohnt in einer Genossenschaft gemeinsam mit anderen älteren Menschen. In Zukunft müsse das Wohnen zu einem Allgemeingut werden, ohne dass die Investoren ein Geschäft draus machten. Anne Wunderle stellt sich vor, dass Nachbarschaften ihre Wohnformen selbst organisieren und sich auch gemeinsam gegen den Klimawandel starkmachen. Momentan gehe es leider in eine andere Richtung, sagt sie. Aber das sei kein Grund, sich nicht einzusetzen.

4.11.2023 Wohndemo in Zürich. IM Portrait Anne Wunderle.