Corona in KeniaWo sind die 2 Millionen Schüler?
Mädchen wurden verheiratet, Buben mussten einen Job annehmen – in Kenia hat der Lockdown schlimme Folgen. Unser Autor berichtet, wie seine Schule den Kindern Halt gibt.
Für rund 18 Millionen kenianische Kinder und Jugendliche der Primar-und Sekundarschulstufe war Anfang Januar die neun Monate dauernde Corona-Zwangspause beendet. Aber nur 16 Millionen sind nach ersten Erhebungen des Erziehungsministeriums vom Montag in die Schulen zurückgekehrt. Der lange Unterbruch hat nicht nur dem Bildungsniveau einen herben Schlag versetzt. Er hat auch die Kinder verändert.
Mit ihrem Bericht «Wo sind die Kinder geblieben?» hatte die kenianische Zeitung «Daily Nation» bereits Ende November eine Schockwelle in Kenia ausgelöst. Was war geschehen? Im August 2020 hatte die Regierung entschieden, dass die Primar- und Sekundarschulen, Letztere entsprechen den Schweizer Mittelschulen, erst Anfang Januar wieder beginnen sollten. Der Unterricht sollte damit also mehr als neun Monate ausfallen.
Vergleich mit Ebolakrise
Lediglich für die vierte und die achte Primarklasse sowie die vierte Sekundarstufe sollte ab Oktober 2020 der Unterricht wieder beginnen. Denn die Viertklässler legen im März 2021 eine Art Zwischenprüfung ab, und die Achtklässler machen die Schlussprüfung der Primarschule. Die vierte Sekundarklasse wiederum steht vor ihrem «Form IV»-Abschluss, vergleichbar mit der Matura. Allerdings kehrten im Oktober über 20’000 Schülerinnen und Schüler nicht mehr in ihre Klassenzimmer zurück.
Der «Daily Nation»-Bericht bestätigte all jene, die eine Schulschliessung über mehrere Monate scharf kritisiert und auf ähnliche Vorkommnisse in anderen afrikanischen Ländern hingewiesen hatten. Am besten untersucht sind die Auswirkungen von Schulschliessungen während des Ebolafiebers in Westafrika vor fünf Jahren. Gemäss Studien des UNO-Kinderhilfswerks Unesco und der Weltbank kehrten bis zu einem Viertel der Kinder nicht mehr in die Schule zurück, in erster Linie Mädchen. Sie waren unterdessen schwanger oder von ihren Eltern verheiratet worden, oder sie hatten Stellen als Haushaltshilfen angenommen, um zum Familieneinkommen beizutragen.
Die Buben hatten in der Zwangspause eine Arbeit gefunden und zogen es vor, weiterzuarbeiten, statt in der Schule zu lernen. Oder sie mussten auf Drängen der Familien weiterarbeiten. Denn bei den Ebolaausbrüchen waren die Armen am stärksten betroffen. Vielen Eltern erschien das Zusatzeinkommen wichtiger als die Fortsetzung des Schulbesuchs. Das ist heute bei der Corona-Pandemie ganz ähnlich, das zeigt sich auch bei den Eltern der Kinder der Gentiana-Schulen tagtäglich. Die mit Spenden aus der Schweiz und Deutschland finanzierte private Schule im Slum Kawangware in Nairobi versuchte deshalb, während der Corona-Zwangsschliessung den Kontakt zu den Kindern aufrechtzuerhalten und weiterhin Stoff zu vermitteln.
Überall dort, wo die Mädchen in der schullosen Zeit während der Ebolakrise durch besondere Aktivitäten wie Berufsbildung oder durch Kurse, etwa zur Gesundheitsvorsorge oder Krankenpflege, in Kontakt mit den Schulen blieben – und waren das nur einige Stunden pro Woche –, sank die Zahl der Mädchenschwangerschaften und Zwangsverheiratungen drastisch. Kontakte zur Schule sind also elementar.
Deshalb startete Oberstufenlehrerin Elizabeth Ndinda mit Unterstützung der Gentiana-Schulleitung im April 2020 ihre Aktion: Sie mietete eine Blechhütte und versammelte die Mädchen der 7. und 8. Klasse. Sie lehrte sie nähen, kochen, stricken und Teppiche weben. Ndinda wurde von zwei Kindergärtnerinnen unterstützt. Und während sie alle so auf dem Boden arbeiteten, unterhielten sie sich mit den Schülerinnen über Empfängnisverhütung, Mädchenschwangerschaften, über Hygiene, über die Würde der Mädchen und über den Mut, Nein sagen zu können.
Die paar Dutzend Mädchen wiederum, die mit Gentiana-Stipendien die Mittelschule besuchen und ebenfalls nach Hause geschickt worden waren, erhielten einen mehrwöchigen Computerkurs. Ausserdem bekamen alle zu essen – ein weiterer Anreiz, die Schule zu besuchen. «Wer Hunger hat», umschreibt Elizabeth Ndinda das Problem, «ist anfällig für die Avancen der Männer.» All diese Bemühungen waren erfolgreich. Keines der Mädchen ist schwanger geworden.
Da an Onlineunterricht mangels Computer nicht zu denken war, schrieben die Lehrerinnen und Lehrer der Gentiana-Schule für alle Klassen Arbeitsblätter, die die Kinder in der Schule abholten und zwei Tage später ausgefüllt zurückbrachten. Die Lehrerinnen und Lehrer besuchten die Kinder wöchentlich zu Hause, brachten ihnen die wichtigsten Schulbücher, ermunterten sie, die Aufgaben zu erledigen. Oder sie motivierten durch Telefonanrufe die Eltern, ihren Kindern beizustehen.
Hausbesuche statt Homeoffice
Die Lehrkräfte an Kenias staatlichen Primar-und Sekundarschulen sind derzeit nicht zu beneiden. Ihre Behörden verlangen, dass Händewaschanlagen eingerichtet und die Klassen aufgeteilt werden, um die Abstände zu gewährleisten. Ein Grossteil der staatlichen Schulen freilich ist nicht ans Wassernetz angeschlossen.
Was schwerer wiegt: Es stehen überhaupt keine zusätzlichen Räume für Kleinklassen zur Verfügung. Die staatliche Kinanjui-Primarschule etwa in der dicht bevölkerten Siedlung Kawangware in Nairobi führt alle Klassen der Oberstufe in zwei Zügen zu je 100 Kindern pro Klasse. Selbst Schichtunterricht wird zum Problem. Erschwerend kommt hinzu, dass über 300 private Schulen in Kenia die Zwangspause finanziell nicht verkraftet haben und schlossen. Zehntausende betroffene Kinder drängen nun in die ohnehin stark besetzten staatlichen Schulen.
Peter Otieno, der die Gentiana-Schule leitet, kennt den sozialen Hintergrund der Kinder. «Mir scheint, sie sind in diesen Corona-Monaten erwachsener geworden», sagt er. Er sehe das nicht nur bei den Viert- und Achtklässlern, die seit Oktober regelmässig zum Unterricht erscheinen würden, sondern auch bei den Kindern aus den anderen Klassen, die sich Bibliotheksbücher ausleihen oder auf dem Spielplatz der Schule Fussball spielen würden. «Sie haben ihre Eltern gesehen, die frühmorgens das Haus verliessen, um sich irgendeine Tagelöhnerarbeit zu ergattern, und oft nach wenigen Stunden entmutigt zurückkamen», erzählt Otieno. «Die Kinder waren tagelang sich selbst überlassen, mit knurrendem Magen, zogen in kleinen Gruppen durch die Quartiere, immer scharf beobachtet von den Besitzern der Fruchtstände entlang der Strassen.»
Gerade die älteren Buben und Mädchen hätten sich über die Schulschliessung beschwert, sagt Otieno. Klar, sie sahen die vollen Kneipen, sie sahen im Fernsehen die Wahlveranstaltungen der Politiker und wussten, dass die Kirchen und Moscheen offen waren, aber die Schulen nicht, «das fanden sie ungerecht».
Viele Kinder im Slum Kawangware wachsen mit alleinerziehenden Müttern auf. Sie haben das Frühstück und das Mittagessen in der Schule vermisst. «Aber die Kinder haben auch auf einer anderen Ebene ihre Erfahrungen gemacht. Tagelang oft allein gelassen, lernten sie, sich in ihrem Umfeld selbst zu organisieren, und eigneten sich so eine gewisse Selbständigkeit an», sagt Otieno.
Nairobis ärmste Kinder sind zwar teilweise in die Schule zurückgekehrt. Und doch ist nichts mehr so, wie es war. Viele haben Einblicke erhalten in andere Lebenssituationen, einige haben Hunger, Elend und Gewalt in ihrer Familie erlebt, über Monate hinweg und ohne in die Schule ausweichen zu können. Und vor allem: Die Schwachen sind noch schwächer geworden. Die Frage ist, ob sie schulisch wieder Tritt fassen können, falls sie das überhaupt wollen.
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