Wo die neuen Trainer dem ZSC Beine machen
Die Lions haben (noch?) nicht das effizienteste Unterzahlspiel, aber ein aufwändiges, spektakuläres, ja einmaliges. Ein Blick in die Welt des Zürcher Penalty Killings.
Rikard Grönborg, der neue ZSC-Headcoach, hat den Lions Beine gemacht. Dies soll jetzt keine boshafte Anspielung sein auf die letzte Saison, als sich die Zürcher ganz viel Spott hatten anhören müssen, weil sie als Titelverteidiger das Playoff verpassten.
Nein, es geht darum, dass unter dem Trainer aus Schweden die ZSC Lions an guten Tagen gerade im läuferischen Bereich überzeugen, ständig in Bewegung sind, auf dem ganzen Eisfeld Druck auf den Gegner ausüben.
Ein Aspekt, der bislang vielleicht etwas weniger Beachtung fand, ist das neue Penalty Killing des ZSC. Zu Unrecht! Denn das Unterzahlspiel der Lions, dafür ist der ebenfalls neue Assistenzcoach Fredrik Stillman zuständig, es ist das aktivste, unberechenbarste, weil offensiv ausgerichtete, ja spektakulärste der Liga und in seiner Konsequenz einmalig in der National League.
Die Zürcher halten damit den Puck regelmässig fernab vom eigenen Tor, es kommt im Idealfall für den Gegner gar nicht erst zur klassischen Powerplay-Situation, in der der Gegner eingeschnürt wird. Eine Folge davon ist, dass die ZSC Lions so oft wie kein anderes Team zu eigenen Schussversuchen kommen in Unterzahl. Gleichzeitig sind die Lions auch jenes Team, das am wenigsten gegnerische Schussversuche zulässt in Unterzahl. Hier die beiden Tabellen mit allen 12 NL-Teams, links die eigenen Schussversuche, rechts jene des Gegners, einzusehen auch auf nlicedata.com, einer Schweizer Hockey-Website für Statistik-Freaks:
So viel zur Theorie. Doch wie sieht das in der Praxis aus, auf dem Eis? Schauen wir dazu ein Zürcher Unterzahlspiel mit typischem, weil einzigartigem Verhaltensmuster an. Es folgt ein besonders gutes, 74 Sekunden langes Penalty Killing der ZSC Lions beim Spiel am letzten Dienstag gegen Langnau, in vier Teile aufgesplittet. (Wichtiges Detail: Das Spiel steht 1:1, gespielt sind 16 Minuten im Mitteldrittel – es ist also kein Ausnahmezustand kurz vor Schluss, in dem die Zürcher unbedingt ein Tor erzwingen wollen.)
Gerade sind 46 Sekunden überstandene doppelte Unterzahl vorbei, Stürmer Reto Schäppi (#19) kehrt als erster Zürcher aufs Eis zurück und kommt sofort in Puckbesitz. Simon Bodenmann sitzt für 74 weitere Sekunden auf der Strafbank. Anstatt die Scheibe einfach tief zu schiessen, sucht Schäppi aber sofort die Offensive, macht auf Langnaus Verteidiger Yannick Blaser (#70) Druck – bis hinter dessen Tor. Danach lässt sich Schäppi sofort fliegend auswechseln. Zu sehen ist am Ende, wie mit Justin Sigrist (#13) auch der zweite ZSC-Stürmer bereits in der Langnauer Zone Druck auf den Gegner macht und vor allem wie mit Phil Baltisberger (#24) einer der beiden ZSC-Verteidiger fast an die gegnerische blaue Linie aufrückt, um den Langnauer Aufbau mit Chris DiDomenico (#89) zu stören.
Es geht ungeschnitten weiter: Die aktive Störarbeit von Sigrist und Baltisberger trägt bereits an der Mittellinie Früchte, DiDomenico und dann auch Ben Maxwell (#49) bleiben hängen, es kommt zum Turnover. ZSC-Stürmer Roman Wick (#27), der fliegend für Schäppi gekommen ist, könnte nun den Puck tief schiessen, aber auch er entscheidet sich sofort für die Offensive. Sigrist (#13) geht mit, was zur Folge hat, dass mit SCL-Stürmer Pascal Berger (#19) sogar der vorderste Langnauer zurück zur Absicherung vors eigene Tor gezogen wird. Nun sind plötzlich alle fünf Langnauer Powerplayspieler im eigenen Drittel, beschäftigt von zwei Zürcher Stürmern. Wick gewinnt weitere Sekunden, er spielt die Scheibe zurück ins eigene Drittel, wo Verteidiger Phil Baltisberger (#24) bereits wartet und den Puck tief ins Langnauer Drittel zurückschiessen wird. Gibt's also endlich Zeit und Raum für die SCL Tigers, um einen vernünftigen Aufbau zu starten? Nein, es ist eine «Falle» der Zürcher.
Zwar schiesst Baltisberger den Puck tatsächlich tief, doch der zweite Zürcher Verteidiger, Dario Truttmann (#86), ist bereits an der offensiven blauen Linie, was Langnaus vordersten Stürmer, Topskorer Harri Pesonen, sofort wieder defensiv agieren lässt. Die ZSC-Stürmer Wick und Sigrist sind zudem bereits wieder beim Forechecking. Eine weitere Langnauer Angriffsauslösung ist gestört – man könnte kurz vergessen, dass die Tigers eigentlich stets mit einem Mann mehr agieren. Weil diese ständige Laufarbeit in Unterzahl Kraft kostet, lässt sich nun Sigrist fliegend auswechseln, für ihn kommt Topskorer Pius Suter (oranger Helm). Es lohnt sich, in der Fortsetzung vor allem auf ihn zu achten.
Zunächst ist Suter zwar defensiv aktiv, sorgt gemeinsam mit Verteidiger Trutmann dafür, dass Langnaus Raphael Kuonen (#21) den Puck verliert. Danach schaltet Suter sofort in die Offensive um. Ebenfalls bemerkenswert: Den hinters Zürcher Tor geflogenen Puck schiesst nicht etwa der zweite ZSC-Verteidiger, Tim Berni (#96), im hohen Bogen nach vorne. Nein, es ist Stürmer Wick, der innert Sekunden vom Forechecker zum Backchecker wurde. Wicks Lob ist kein simpler Befreiungsschlag, Suter erwartet den Puck bereits in der Mittelzone. In der Folge beschäftigt er hinter dem Langnauer Tor fünf Gegner – die Langnauer wissen längst nicht mehr, wie ihnen geschieht. Suters Pass zurück in die eigene Hälfte setzt das Langnauer Powerplay endgültig schachmatt. Ein weiterer tiefer Pass zurück in die Langnauer Zone auf Stürmer Denis Hollenstein (#91) sorgt dafür, dass der ZSC die restliche Zeit im Boxplay problemlos auslaufen lassen kann. Hollenstein hat sich kurz zuvor fliegend für Wick einwechseln lassen.
Was auffiel:
1) Die ZSC Lions setzen im Penalty Killing im Sturm nicht nur Unterzahl-Spezialisten wie Schäppi ein, sondern auch mehrere «Skill-Players», also Angreifer, die läuferisch und technisch überdurchschnittlich sind, bei 5-gegen-5-Hockey einen Platz in den ersten beiden Linien haben: Suter, Bodenmann, Wick, Hollenstein, Marcus Krüger oder Garrett Roe. Der HC Davos als krasses Gegenbeispiel verteilt die beiden Special Teams auf alle Stürmer. Vorwiegend Spieler aus den hinteren Linien spielen nur Penalty Killing, werden als Unterzahl-Spezialisten eingesetzt. Wohl auch darum ist Davos in der Tabelle mit den Abschlüssen in Unterzahl mit Abstand an letzter Stelle. (Und willst du so spielen wie die Lions, schadet es sicher nicht, über ein derart breites, talentiertes und entsprechend kostspieliges Kader zu verfügen …)
2) Die ZSC-Stürmer sind zu Beginn ihrer Shifts stets im Angriffsmodus, nützen jede Chance zum Gegenangriff, machen auf den Gegner selbst hinter dessen eigenem Tor Druck. Damit werden die vom Gegner im Training eingeübten Powerplay-Angriffsauslösungen oft verunmöglicht. Der Gegner ist mit einer ungewohnten Situation konfrontiert und reagiert entsprechend häufig falsch. Kaum jemand übt im Training unter solchen Bedingungen eine Powerplay-Auslösung …
3) Die ZSC-Stürmer sind ständig in Bewegung, unternehmen alles, um nicht aus dem Lauf-Rhythmus zu kommen. Auch darum werden keine Checks fertig gemacht, obwohl in den vorigen Szenen Schäppi, Suter, Sigrist und Wick allesamt die Chance dazu hätten.
4) Schnelle fliegende Wechsel. Während die ZSC Lions in diesen 74 Sekunden ihre Angreifer mehrfach fliegend wechseln, gibt es auf Langnauer Seite Spieler, die die ganze Zeit über auf dem Eis verblieben. Gerade im Mitteldrittel, wenn die Laufwege länger sind, können fliegende Wechsel ein hohes Risiko bergen, erst recht in Unterzahl. Die ZSC Lions meistern dies hier optimal.
Es brauchte Zeit für die extreme Umstellung
Die ZSC Lions haben zwar noch bei weitem nicht das effizienteste Unterzahlspiel der Liga. Sie überstehen über die ganze bisherige Saison gesehen 80 Prozent ihrer Penalty Killings ohne Gegentor, das ist fast exakt der Liga-Durchschnitt. Doch diese Zahl täuscht. Die extreme Umstellung des Unterzahlspiels durch Assistenzcoach Stillman benötigte Zeit und Anpassungen während der Saison – zu Beginn hagelte es Gegentore in Unterzahl, die neue Ausrichtung klappte noch nicht.
Schaut man darum beispielsweise nur auf die Spiele seit dem 1. November 2019, hat sich der ZSC stark verbessert in Unterzahl, verfügt hinter Genf-Servette (das ebenfalls ein eher aktives Boxplay spielt) mit knapp 87 Prozent über das zweitbeste Penalty Killing der Liga. Hier folgend beide Ranglisten mit allen 12 Teams, links die ganze Saison, rechts nur mit den Spielen seit dem 1. November 2019:
Keine Eintagsfliege
Dass das 74 Sekunden lange Beispiel oben keine Ausnahme ist, zeigen zum Abschluss noch drei zusätzliche ZSC-Boxplays. Zunächst zwei weitere vom Mitteldrittel am letzten Dienstag gegen Langnau:
Zunächst kreieren Raphael Prassl (#18) und Victor Backman (#64) mit viel Offensivdrang eine grosse Torchance in Unterzahl.
Sofort lässt sich Prassl fliegend auswechseln, für ihn kommt Suter. Und mit dem Topskorer sowie weiterhin Backman beginnt das bereits bekannte Spielchen von vorne – angekurbelt von den beiden Verteidigern Trutmann (#86) und Patrick Geering (#4), die stets sofort den Pass auf die Stürmer suchen und gar nicht erst daran denken, den Puck wie sonst «üblich» in Unterzahl einfach tief zu schiessen.
Die folgende Sequenz zeigt den Zürcher Biss in Unterzahl. Was mit einem Bully in der ZSC-Zone beginnt (das an die Tigers geht!), wird innert Sekunden ein für Langnau weiterer mühsamer Aufbau in der eigenen Zone:
Topskorer Suter schafft es trotz verlorenem Bully, sofort zu befreien (für den Einsatz gibt's von Teamkollege Maxim Noreau den anerkennenden Klaps auf den Hintern), kurz danach sorgen er und Backman (#64) für Unruhe in der Langnauer Zone, selbst bei Goalie Ivars Punnenovs. Danach wird sofort fliegend gewechselt.
Zu guter Letzt noch ein Beispiel vom letzten Zürcher Auswärtsspiel, ebenfalls gegen Langnau:
(Videos MySports/SIHF)
Es beginnt mit einem wegen eines angezeigten Offsides gegen Langnau von Stürmer Prassl (#18) eroberten Puck mit anschliessendem Pass zurück an den Verteidiger. Es folgt der bereits bekannte Lob, diesmal von Geering (#4), auch hier ist es nicht bloss ein Befreiungsschlag. Denn die Stürmer Prassl und Wick (#27) warten bereits vorne, bringen Langnaus Powerplay einmal mehr in Verlegenheit, sorgen für eine Torchance in Unterzahl und weiteres effizientes Forechecking. Am Ende ist gar zu erkennen, dass mit Trutmann (#86) einer der beiden Verteidiger als Unterstützung aufgerückt ist und auf einen eventuellen Pass in den Slot spekuliert.
Ein kleines Aber …
Übrigens, einen kleinen Haken hat das Ganze aus Zürcher Sicht. Obwohl der ZSC das aktivste NL-Team in Unterzahl ist und am häufigsten zu eigenen Abschlüssen im Penalty Killing kommt, haben die Lions erst drei Tore in Unterzahl erzielt. Das ist einmal mehr exakt Liga-Durchschnitt – Top-Wert ist sieben (Ambri und Zug). Was nicht ist, kann aber noch werden. Denn wie pflegen Coaches und Statistiker da jeweils zu sagen? Vertraue dem Prozess …
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