Interview mit Bestsellerautorin «Wir ziehen uns chic an, aber die Instinkte sind immer da»
Die US-Schriftstellerin Delia Owens hat mit ihrem ersten Roman «Der Gesang der Flusskrebse» einen überraschenden Welterfolg gelandet. Inspiration dafür fand die Wissenschaftlerin in der Wildnis.

Sie haben über 20 Jahre in Afrika gelebt und geforscht. Wann kam die Idee, einen Roman über ein Mädchen zu schreiben, das ganz auf sich gestellt überleben muss?
Ich habe das Gefühl, diese Geschichte ist in mir gewachsen. Schon mein ganzes Leben lang. Ich bin in den Wäldern im Süden von Georgia gross geworden, nahe der Grenze zu Florida, und ich war immer draussen. Meine Mutter trieb mich an, rauszugehen. Aber den wirklichen Anstoss für das Buch erhielt ich in Afrika, als ich das Sozialverhalten der Wildtiere beobachtete.
Löwen, Elefanten, Hyänen …
Als ich dort in der Kalahariwüste bei Sonnenuntergang Löwen beobachtete, dachte ich an meine Freundinnen zu Hause in den USA. Ich fühlte mich einsam. Ich wollte ein Buch darüber schreiben, wie Isolation einen Menschen verändert. Wie würde sich ein kleines Mädchen verändern, wenn es sich gezwungen sehen würde, allein aufzuwachsen?
Es ist eine Ausnahmesituation.
Ja, und es verändert diese kleine Kya in meinem Buch sehr. Sie ist isoliert, scheu. Aber was mich beim Schreiben überrascht hat: Jedes Mal, wenn ich ihr einen Stein in den Weg gelegt habe, fand sie ein Mittel, damit umzugehen. Also lehrt uns Kya, dass man sich selbst als Einzelgängerin durchschlagen kann. Sie hat diese innere Stärke.
«Ich habe Verhaltensbiologie studiert. Und ich habe gelernt, wie wichtig unser Instinkt ist.»
Das Ende des Buches veranlasst uns, den moralischen Kompass neu auszurichten. Oder ihn mindestens zu überprüfen.
Das war meine Absicht. Ich wollte erreichen, dass man das Buch zuschlägt und ins Nachdenken gerät. Ich habe das Ende so gewählt, dass eigentlich alles klar ist. Wir wissen genau, was passiert ist. Aber was nicht klar ist: Wie gehen wir mit einer Situation um, wenn wir uns nicht darauf verlassen können, dass die Gesetze uns schützen? Das Ende, aus meiner Sicht, ist eine Frage – und eine Antwort.

Stimmt es, dass Sie zehn Jahre an dem Buch gearbeitet haben?
Ja, aber bitte verstehen Sie, dass ich damals noch als Wissenschaftlerin gearbeitet habe. Es war nicht mein Brotjob, dieses Buch zu schreiben. Aber ich stand jeden Morgen um 4 Uhr auf, um am Manuskript zu arbeiten. Ich lebte damals in Idaho und forschte zum Verhalten der Wildtiere. Ich habe das Buch mehrere Male weggeschlossen. Ich packte alles in eine Kiste und stellte sie in einen Schrank.
Sie folgten keiner Storyline von A nach B?
Doch. Als mir klar war, welche Geschichte ich erzählen wollte, wusste ich auch, wie es enden würde. Und dann arbeitete ich mich zurück zum Anfang der Story.
Das klingt nach John Irving. Der hat mal erklärt, dass er immer mit dem letzten Satz seines Buches anfängt.
Genau das habe ich gemacht. So war mir klar, wohin ich mit der Geschichte gehen würde. Ich habe Verhaltensbiologie studiert und gelernt, wie wichtig unser Instinkt ist. Wenn wir verstehen würden, weshalb wir uns in gewissen Situationen so verhalten, wie wir es tun, hätten wir ein besseres Verständnis von uns selbst.
Nur von uns selbst oder von der Gesellschaft an sich?
Von beidem. Stellen Sie sich vor, Sie stehen an, um einen Espresso zu bestellen, und jemand drängelt sich vor. Das ärgert Sie wahrscheinlich mehr, als es sollte. Aber das hängt damit zusammen, dass es schon vor Millionen von Jahren zu Konflikten führte, wenn jemand ans Wasserloch drängte. Da ging es vielleicht ums Überleben. Der Streit um Ressourcen ist eine Sache der Instinkte. Das soll jetzt nicht heissen, dass es richtig ist, sich im Café aufzuregen. Aber Sie können jetzt verstehen, warum es so ist.
Wenn es hart auf hart kommt, fallen wir auf die Instinkte zurück, und alle Regeln werden über Bord geworfen?
Das ist die grosse Frage. Was ich mit dem Buch sagen will: Ja, es kann sehr schnell gehen. Wir haben als Spezies beschlossen, uns auf Regeln zu verlassen. Wir haben Gesetze erlassen und uns vorgenommen, anständig miteinander umzugehen. Doch wie tief sitzt diese Überzeugung? Wie weit würden Sie zum Beispiel gehen, um Ihr Kind zu verteidigen? Gerade bei dieser Frage kommen die Instinkte sehr schnell wieder an die Oberfläche. Ich sage nicht, wir sollen nicht versuchen, sie zu kontrollieren. Aber wir müssen uns bewusst sein, dass sie immer da sind.

Haben Sie das beim Beobachten der Wildtiere begriffen?
Ich glaube, ich wusste es schon vorher. Und ich glaube, die meisten Menschen wissen das. Aber ich habe Tag für Tag Löwen oder Elefanten zugesehen. Ich habe eine Hyänin beobachtet, die das Genick einer Rivalin während Minuten zerbissen hat, bis es wie ein Hamburger aussah. Nur um ihre Dominanz zu beweisen. Das ist alles real. Wir hier im Westen fahren durch die Strassen, wir ziehen uns chic an, aber während der ganzen Zeit sind die Instinkte immer da.
Können Sie nach so einem Meisterwerk überhaupt den Mut fassen, ein nächstes Buch zu schreiben?
Der Druck, den ich spüre, ist enorm. Möglicherweise hätte ich es gar nicht gewagt weiterzumachen, wenn ich nicht eine Story hätte, die ich wirklich erzählen will. Aber ich sehe schon die Buchbesprechungen: «Also das ist kein ‹Der Gesang der Flusskrebse›.»
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