Kolumne von Milo RauWir Sklavenhalter*innen
Corona enthüllte die Wahrheit unserer Lebensweise: Die Warenströme aus der Dritten Welt und den kriminell geführten Grosskonzernen hielten an, auch wenn wir ein Vierteljahr zu Hause blieben.
Der Lockdown ist in den meisten europäischen Ländern zu Ende gegangen, und es ist an der Zeit, zu fragen: Was wird anders nach Corona? Angesichts der Entscheidungen, die wir als demokratische Staaten bereits getroffen haben: rein gar nichts. Milliardenhhilfen wurden für jene Sektoren beschlossen, die an der Zerstörung unserer Lebensgrundlagen den entscheidenden Anteil hatten. Sie können ihre Arbeit nun zu Ende führen: Fluggesellschaften, Erdöl- und Autokonzerne.
Dabei haben wir in den letzten Monaten erlebt, wie westliche Gesellschaften kollektiv, rational und solidarisch gehandelt haben. Wir wurden Zeuge, wie eine Ökonomie des Lebens über eine Ökonomie des Mehrwerts siegte, von einem Tag auf den anderen. Plötzlich verhandelten wir über ein bedingungsloses Grundeinkommen, die Finanzeliten einer ganzen Gesellschaft verloren über Nacht ihr Image. Und auf einmal hatten unsere Staaten wieder das Geld für ein funktionierendes Gesundheitswesen oder die Unterstützung mittelloser Kleinunternehmer*innen.
Ich erlebte den europäischen Lockdown in Brasilien. Das Ganze wirkte aus Distanz derart unfassbar, dass sich die Sätze, die ich im März in der Quarantäne in São Paulo schrieb, heute lesen wie aus einem anderen Zeitalter. Denn die Lehre aus Corona lautet: Alles kann geschehen, ohne dass der Status quo seine Gültigkeit verliert. Das liegt an der Beharrungskraft der Lobby-Gruppen genauso wie an der inneren Gestimmtheit der einfachen Bürger*innen. «Das Ende des Monats interessiert die meisten Menschen mehr als das Ende der Welt», wie die grosse Autorin Annie Ernaux mal geschrieben hat. Und was nicht völlig zerbricht, das aufersteht – meist mit neuem Namen – irgendwann aus der Asche.
Die meisten Schweizer*innen erlebten den Full Stop als Befreiung von einem irgendwie seltsamen, da nutzlosen Zwang zur Arbeit.
Vom Untergang Westroms bis zum Wiederaufstieg der italienischen Städte im Spätmittelalter als Träger einer zweiten westlichen Globalisierung inklusive realistischer Kunst und Sklavenhandel dauerte es 1000 Jahre. Aber die Logik war ein und dieselbe. Und auch Corona hat die bestehenden wirtschaftlichen Machtverhältnisse nur untermauert. «Die herrschenden Gedanken sind weiter Nichts als der ideelle Ausdruck der herrschenden materiellen Verhältnisse», wie Marx einst in der «Deutschen Ideologie» schrieb.
Der plötzlich kontemplative Zug der westlichen Eliten während Corona war dafür das schönste und zugleich schrecklichste Beispiel. Die meisten Schweizer*innen erlebten den Full Stop als Befreiung von einem irgendwie seltsamen, da nutzlosen Zwang zur Arbeit. Corona enthüllte die Wahrheit unserer Lebensweise: Die Warenströme aus der Dritten Welt und den kriminell geführten Grosskonzernen hielten an, auch wenn wir ein Vierteljahr zu Hause blieben. Trotz hektischer Zoom-Konferenzen waren wir enttarnt als das, was wir sind: Sklavenhalter*innen.
Wie lässt sich die kapitalistische Megamaschine und ihr Denken also stoppen? Wohl nur, indem wir unsere Macht abgeben, sie teilen, und zwar global.
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