Interview mit Epidemiologe«Wir müssen uns nach dem Trial-and-Error-Prinzip herantasten»
Hat der Bundesrat die richtige Öffnungsstrategie beschlossen? Epidemiologe Richard Neher von der Universität Basel im Interview.
Wie beurteilen Sie das geplante Vorgehen des Bundesrats zur Lockerung der Massnahmen?
Im Grossen und Ganzen begrüsse ich das Vorgehen. Man sollte einfach nicht zu viele Dinge gleichzeitig lockern, denn das erschwert es, den Effekt einzelner Massnahmen retrospektiv zu ratifizieren.
Die beiden ersten Daten, an denen Massnahmen gelockert werden, liegen nur zwei Wochen auseinander. Reicht das, um einen Effekt zu sehen und entsprechend zu reagieren?
Zwei Wochen sind die minimale Zeit, in der man eine allfällige Entwicklung sehen kann. Insofern wäre mir da ein dreiwöchiges Intervall lieber gewesen.
Deutschland hat gestern Autowerkstätten und Buchläden als Erste wieder geöffnet. Bei uns sind es Coiffeursalons und Kosmetikstudios. Das scheint schon ein wenig beliebig.
Alle diese Pläne, von denen wir in den letzten Tagen gehört haben, sei es aus Österreich, Deutschland oder der Schweiz, sind sich in der stufenweisen Lockerung und dem Herantasten eigentlich einig. Natürlich gibt es widerstrebende Tendenzen. Die Wirtschaftsverbände wollen natürlich möglichst schnell zur Normalität zurück, aus epidemiologischer Sicht will man da eher vorsichtig sein, und da haben die Länder offenbar unterschiedliche Kompromisse gefunden.
Das klingt ein wenig nach dem Prinzip Versuch-und-Irrtum.
Ein Hauptproblem ist, dass im März ein breites Massnahmenpaket implementiert wurde. Die Massnahmen kamen alle fast gleichzeitig und ähnlich gestaffelt in verschiedenen Ländern. Daher kann man rückwirkend nicht sagen: Diese Massnahme hat so viel bewirkt und jene so viel. Deshalb müssen wir uns bei der Lockerung ein wenig nach dem Trial-and-Error-Prinzip herantasten.
Am 11. Mai sollen die Schulen wieder geöffnet werden. Kinder, das weiss man, kann man kaum zu Social Distancing zwingen. Könnten da nicht neue Infektionsherde entstehen?
Über die Rolle der Kinder bei der Übertragung des Virus besteht in der Tat noch grosse Unsicherheit. Man weiss, dass sie eine hohe Viruslast haben können, trotzdem aber fast nie schwer erkranken. Die fehlende Gewissheit macht es schwierig, die Entscheidung evidenzbasiert zu untermauern.
In Deutschland hat Bundeskanzlerin Angela Merkel am Mittwoch ein klares Konzept zum Verfolgen von Kontakten von infizierten Personen vorgelegt, bei uns fehlt so etwas bislang.
Ein umfassendes Testen und Tracing ist sicher eine Massnahme, die gerade in Asien zum Erfolg geführt hat. Ich kann daher nur unterstreichen, dass es wichtig ist, dass man solche Strukturen zum Contact-Tracing hat. Ich hoffe, dass man mit Hochdruck daran arbeitet.
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