Interview mit Geologe«Wir müssen dem Berg jetzt Zeit geben»
Stefan Schneider beobachtet den Berg bei Brienz seit Monaten. Im Interview erklärt der Geologe, warum es für eine Entwarnung noch zu früh ist.
Herr Schneider, was ist gestern Nacht genau passiert in Brienz?
Stefan Schneider: Am Nachmittag konnten wir bereits sehen, dass sich die Gesteinsmassen immer schneller bewegten. Kurz vor Mitternacht hat sich dann ein grosser Teil der sogenannten Insel gelöst. Schätzungsweise sind bis zu 1,5 Millionen Kubikmeter Gestein den Berg hinuntergeflossen. Nach fast 500 Metern ist der Schuttstrom dann stehen geblieben – etwa 50 Meter vor dem Dorf. Eine kleine Scheune und ein Teil der Strasse wurden jedoch unter den Bergmassen begraben.
Können Sie sagen, wie schnell die Insel heruntergekommen ist?
Die letzten Resultate, die wir erhalten haben, gaben eine Geschwindigkeit von 40 Metern pro Tag an. Danach wurden die Steine sicher noch schneller, doch mit dem Berg kamen auch die Reflektoren herunter. Dank diesen konnten wir mithilfe von Lasern ziemlich genau messen, wie sich der Berg bewegt. Was genau passiert ist um Mitternacht, wissen wir nicht.
Der Berg kam mitten in der Nacht herunter. Niemand konnte etwas sehen. Was haben Sie gedacht, als am Freitagmorgen die Dämmerung hereinbrach?
Zuerst war ich überrascht, wie viel von der Insel heruntergekommen war. Und dann natürlich erleichtert, dass der Schuttstrom vor dem Dorf haltgemacht hatte. Es ist praktisch der bestmögliche Fall eingetroffen. Aus wissenschaftlicher Sicht ist es natürlich schade, dass niemand gesehen hat, was genau passiert ist. Philosophisch betrachtet kann man es aber auch so sehen, dass der Berg uns gezeigt hat, dass er am Schluss doch macht, was er will.
«Wenn sich zeigt, dass das Plateau oberhalb der Insel instabil ist, könnte das Dorf nach wie vor in Gefahr sein.»
Ist die Gefahr für das Dorf Brienz nun gebannt?
Wir können zu diesem Zeitpunkt leider noch keine Entwarnung geben. Von dem Rest der Insel, der noch oben ist, geht zum Glück keine grosse Gefahr mehr aus. Unser Augenmerk liegt jetzt auf dem Plateau, welches oberhalb der Insel liegt. Dieses besteht aus etwa einer halben Million Kubikmetern Fels und wurde bisher von der Insel gestützt. Wir müssen jetzt zuerst beobachten, wie sich das Plateau nach dem Schuttstrom verhält. Wenn sich zeigt, dass dieses instabil ist, könnte das Dorf nach wie vor in Gefahr sein.
Was ist mit den heruntergekommenen Schuttmassen? Bleiben sie jetzt, wo sie sind?
Wir gehen zum aktuellen Zeitpunkt nicht davon aus, dass sich diese noch stark bewegen werden. Es kann aber schon sein, dass sie noch einige Meter weiter runterkommen. Was wir noch herausfinden müssen, ist, wie sich der Schutt bei Regen oder einem Gewitter verhält. Gerade weiter oben im steilen Gelände könnte es dann unter Umständen auch zu Murgängen kommen, also schnell fliessenden Schlamm- und Steinmassen.
Was passiert mit der Strasse?
Auch das können wir zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht sagen. Ich bezweifle jedoch, dass sie sich so einfach freilegen lassen wird. Es müssten gewaltige Steinmassen abtransportiert werden.
Wann werden die Brienzerinnen und Brienzer Gewissheit haben, wie es weitergeht?
Ich denke, dass wir in wenigen Tagen oder Wochen wissen, wie die Situation aussieht. Doch zuerst müssen wir dem Berg etwas Zeit geben, damit er sich wieder etwas einpendeln kann. Erst dann können wir verlässliche Daten erheben.
«Ob Brienz langfristig bewohnbar bleiben wird, hängt massgeblich vom Erfolg des geplanten Entwässerungsstollens ab.»
Werden die Bewohner von Brienz jemals wieder in ihr Dorf zurückkehren können?
Wir gehen zum jetzigen Zeitpunkt stark davon aus. Zuerst müssen wir die weitere Entwicklung der Lage am Berg beobachten. Erst wenn keine Gefahr mehr für das Dorf und die Bewohnerinnen und Bewohner ausgeht, ist die Rückkehr ins Dorf wieder möglich. Daher müssen sie sich noch etwas gedulden. Ob Brienz langfristig bewohnbar bleiben wird, hängt massgeblich vom Erfolg des geplanten Entwässerungsstollens ab, der die Rutschgeschwindigkeit reduzieren soll.
Haben die Brienzerinnen und Brienzer Verständnis dafür, dass Experten wie Sie entscheiden, wann Sie wieder nach Hause dürfen?
Grossmehrheitlich haben wir sehr positive Rückmeldungen aus der Bevölkerung erhalten, und viele haben uns auch persönlich für unsere Arbeit gedankt. Aber die Situation ist natürlich sehr schwierig für sie. Ich denke, als Nichtbetroffener kann man sich kaum vorstellen, wie das ist, wenn man aus dem eigenen Zuhause evakuiert wird. Ich versuche aber, das bei meiner Arbeit auszublenden und einen rein wissenschaftlichen Blick zu behalten.
Können Sie heute Nacht in Ruhe schlafen, oder besteht die Gefahr, dass sich der Berg erneut bewegt?
Wie die meisten Beteiligten habe ich heute kein Auge zugetan und werde also ziemlich sicher lange und gut schlafen. Ich gehe nicht davon aus, dass sich der Berg heute Nacht nochmals so stark bewegen wird.
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