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Corona und Risikogruppen
«Wir Behinderten» haben es nicht zum Thema gebracht

Christoph Keller und seine Hündin Suna, die sich gegenseitig Schutz gaben.

An einem Montagabend während der siebten Woche des Corona-Lockdown ist unser Hund gestorben. Suna kam zu uns, wir hatten uns gerade zum Fernsehen eingenistet, ging ein paar zögerliche Schritte an uns vorbei und brach geräuschlos zusammen. Es gab keinen Zweifel, was zu tun war. Weniger als zehn Minuten später war unser Tierarzt, der durch unseren grosszügigen Hund zum Freund wurde, da.

Hätten wir nicht so rasch reagiert, wäre der Tierarzt nicht so rasch gekommen, unser Hund wäre erstickt. Dass dies geschehen würde – nicht könnte –, war uns von Anfang an klar gewesen. Dieser Anfang lag nicht weit zurück: Wir adoptierten vom Tierheim ein fast vierzehnjähriges Tier mit sehr sichtbaren Lyposomen und nicht zu überhörenden Atemproblemen. Wie oft brach uns Sunas sporadisch durchbrechendes Atemversagen das Herz, wobei immer mitschwang, dass wir ihr nur mit dem helfen konnten, was wir schon getan hatten: ihr ein letztes Heim zu geben.

Schutzlos im konkreten Sinn

Nicht klar war mir, dass der fatale Kollaps dieses Tieres, das mir in wenig mehr als einem Jahr so sehr ans Herz gewachsen war, zum fast unerträglichen Bild werden würde, wie gefährlich das Coronavirus ist, das uns alle bedroht. Es sind die Atemwege, die dieses Virus angreift, über eine Flüssigkeit von einem Menschen auf einen anderen überträgt es sich, durch unsere Münder, Nasen oder Augen verschafft es sich Einlass, findet, wenn auch bei weitem nicht in jedem Fall, Wege in unsere Lunge, um dort möglicherweise letztes Unheil anzurichten.

Unser Hund starb nicht am Virus. Wir sind, soweit wir es wissen, okay. Was wir, meine Frau und ich, nun auch sind, ist verlassen. Schutzlos nicht nur im metaphorischen, sondern konkreten Sinn. Dieses ahnungslose Tier (ahnungslos, weil es nun wirklich nichts von dem Virus weiss, das uns in so vieler Hinsicht atemlos macht) hat uns mit seiner bedingungslosen Fürsorge, seiner kompromisslosen Anwesenheit, seiner unmöglich zu brechenden Loyalität beschützt, uns genauso ein Heim gegeben wie wir ihm.

Dabei dachten wir, wir seien es gewesen, die unsere Hündin, die wir nur gerade dreizehn Monate haben durften, beschützt haben: Suna, diese archaische Mischung aus Appenzeller Sennenhund und Collie mit ungewöhnlich sanftem, weissrötlichen Fell und den wachesten Augen, die ich je gesehen habe.

Nun, da sich die Welt einbildet, die Schutzmassnahmen schon lockern zu müssen – möglichst schnell, wie es in Wirtschaftskreisen gefordert wird, etwas langsamer, wie sie von den Gesundheitskreisen etwas gebremst werden –, fühle ich mich noch schutzloser. Verlassen, geradezu.

Unter dem Teppich

Das liegt daran, dass ich zur sogenannten Risikogruppe gehöre. Ich habe eine progressive, neuromuskuläre Erkrankung, sitze jede Sekunde meines Lebens, die ich nicht im Bett verbringe, in einem Stuhl, einem auf vier Rädern.

Schon lassen manche gar ihre Risikogruppe im Stich.

Obwohl ich Schutz brauche, darf es anscheinend nicht mehr sein, dass jene, die diesen Schutz nicht so sehr brauchen (wobei sie sich da sehr täuschen könnten), mir diesen Schutz länger gewähren.

Schon lassen manche gar ihre Risikogruppe im Stich, weil sie sich einreden, zu fit zu sein, um trotz Risikoalters zu den Alten zu gehören. Also werde ich, der ich mir das nicht so einfach einreden kann, auch von ihnen verlassen. Also schrumpft meine Gruppe, die Risikogruppe, und ähnelt immer mehr jenen Minderheiten, für die gerade die Wirtschaftskreise wenig Geduld haben.

Dieses Verlassensein habe ich während dieser Quarantänewochen dank unseres Hundes lange verdrängen können. Recht früh habe ich mich, trotz Hund, zu Wort gemeldet und darauf hingewiesen, dass nun wirklich schon mehrfach über buchstäblich alles geschrieben worden sei, x-fach meist, aber so gut wie nichts über Menschen mit Behinderung.

Die ultimative Risikogruppe wurde unter den Teppich gekehrt.

Vielleicht findet sich ein entlegener Artikel, aber zum Thema haben «wir Behinderten» es nicht gebracht. Mein Eindruck ist, dass wir, die ultimative Risikogruppe, jene Schwächsten, an denen die Stärke einer Gesellschaft sich doch messen will, wie üblich, muss ich schon sagen, unter den Teppich gekehrt worden sind.

Nein, ist viel schlimmer: Unter dem Teppich sind wir doch längst – dass wir also gar nicht erst unter dem Teppich hervorgekehrt worden sind. Kein Wort in unsere Richtung von der Regierung, ob auf Bundes- oder Kantons- oder Stadtebene, kein gewichtiges in den Medien. Kein mir bekannter Bericht darüber, wie es in einem Heim für Menschen mit Behinderung aussieht, kaum einer über ein «behindertes» Einzelschicksal. Viel zu wenig darüber, was es zu Corona-Zeiten bedeutet, behindert zu sein. Das, so viel scheint schon einmal klar, ändert nicht einmal eine Pandemie.

Gelockert auf Teufel komm raus

Und jetzt wird gelockert. Ich befürchte: auf Teufel komm raus. Und ich fürchte sehr, wenn ich mich so umschaue, wie sehr sich die Leute nicht an die Regeln halten, dass er es tun wird.

Ich schreibe weiter, dafür und dagegen und am liebsten nicht über dieses Virus. Mir kommt ein bisschen vor, dass ich das in meinem letzten Roman «Der Boden unter den Füssen», erschienen im vergangenen Herbst, schon getan habe: Einem Brückenbauer bricht eine Brücke zusammen (weil ihr der Atem ausgegangen ist?). Er will zum Erstaunen aller nicht einfach weitermachen, fordert stattdessen ein sofortiges Brückenbaumoratorium, ja, alles einmal anzuhalten, und zieht sich in seinen Garten zurück. Der, weil er dauernd darin herumwandert, immer grösser und besser wird. Der verdammt dem Garten, in dem ich sein darf, gleicht.

Und schon ist die Luft, die wir atmen, viel besser geworden.

Ja, meinem Protagonisten, der jetzt so unangenehm in die Zeit passt, lief ein Hund zu. Ein Hund, der unserer guten, ausser Atem gekommenen Suna aufs weissrötliche Haar gleicht. Ich weiss, dass nun diese Funktion, die Schutzfunktion, ich übernehmen muss. Auf allen vieren in meinem Stuhl auf vier Rädern bin ich schon.