Leser fragenWieso bin ich trotz hohem IQ kein Genie?
Wieso Intelligenztests oft nicht das messen, was wir meinen.
Vor einiger Zeit wurde in dieser Zeitung von einem jungen Genie berichtet, das bereits im Alter von 12 Jahren ein Universitätsstudium absolvieren kann. Dieser Junge hat einen IQ von 149 und ist damit ein Genie. Ich bin 78 Jahre alt, und bei mir wurde der IQ vor etwa 50 bis 55 Jahren dreimal höher als 160 (161, 163 und 167) «gemessen»; anscheinend war da noch ein gewisser Trainingseffekt involviert. Diese Tests waren ausschliesslich Zahlen-, Struktur- und Wortspielereien ohne jeden praktischen Wert. Ich bin nun definitiv kein Genie – das ist nicht falsche Bescheidenheit, ich weiss ganz genau, wovon ich rede. Was ist bei mir falsch gelaufen? Hängt vielleicht Genialität nicht so sehr mit dem IQ zusammen, wie immer unterstellt wird? O.B.
Lieber Herr B.
Der Junge, von dem Sie schreiben, ist gewiss ein Wunderkind, das von seinen ähnlich begabten Eltern übrigens auch sehr gefördert wurde. Vielleicht hätte unter anderen Bedingungen aus Ihnen ebenfalls ein Wunderkind werden können. Mit grösster Wahrscheinlichkeit wird aus dem Kind einmal ein sehr begabter erwachsener Mathematiker. Aber ob er die «Genialität» eines Eulers, Turings, Erdös' oder Perelmanns erreicht?
Intelligenz lässt sich in der Psychologie so fassen, dass man einigermassen vernünftig damit arbeiten kann, und das funktioniert, weil man in der Psychologie «Intelligenz» seit dem frühen 20. Jahrhundert als einen technischen Begriff beziehungsweise als ein operationalisierbares Konstrukt verwendet: «Intelligenz ist, was der Test testet», schreibt der Intelligenzforscher Edwin G. Boring 1923, und daran hat sich im Prinzip bis heute nichts geändert.
«Es wäre besser gewesen», so Boring, «wenn die Psychologen einen anderen ... Begriff hätten verwenden können, da die gewöhnliche Konnotation von Intelligenz viel weiter gefasst ist. Der Schaden ist jedoch schon angerichtet, und es muss kein Schaden entstehen, wenn wir nur daran denken, dass messbare Intelligenz einfach das ist, was die Intelligenztests testen …».
Nicht ohne Grund gibt es keinen Genialitäts-Test. Denn Genialität ist gerade nichts Graduelles, für das man eine Normalverteilung in der Bevölkerung abbilden könnte. Genialität, so wie man das Wort in der Regel versteht, ist der absolut unwahrscheinliche Ausrutscher. Das ist bei der Intelligenz anders. Intelligenztests sind so konstruiert, dass sie bei hinreichend vielen Testpersonen eine Normalverteilung an «Intelligenz» zeigen. Darum sind die Testergebnisse keine absoluten Grössen, und darum müssen die Tests immer wieder verändert und nachgeeicht werden, damit sie aussagekräftig bleiben. Irgendeine Intelligenz hat jeder. Irgendeine Genialität nicht, denn sonst wäre es keine.
Der Psychoanalytiker Peter Schneider beantwortet Fragen zur Philosophie des Alltagslebens. Senden Sie uns Ihre Fragen an gesellschaft@tagesanzeiger.ch.
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