Wie schnell dürfen Abfahrer sein?
Am Lauberhorn wurde Johan Clarey einst mit 161,9 km/h geblitzt. Die Bestmarke wurde nicht anerkannt – die FIS will keine Rekordjagd und die Rennen verlangsamen.
Er versuchte es mehrmals, aber es funktionierte nicht. Im Herbst wollte Johan Clarey eine Zusatzversicherung abschliessen, doch er kriegte Absage um Absage, und die Antwort der Anbieter war stets die gleiche: zu riskant, zu schlimm die Vorgeschichte. Immer wieder ist Clarey ausgefallen, er musste sich am Rücken operieren lassen, mehrmals am Knie. Vor allem dieses will keine Firma mehr versichern. «Vielleicht hätten wir uns einigen können. Aber dann wäre die Prämie so hoch gewesen, dass ich mich zweimal pro Winter hätte verletzen müssen, damit es rentiert hätte», sagt der Franzose.
Clarey ist Abfahrer, schon lange, mit 39 ist er der Älteste am Lauberhorn. In der Disziplinenwertung ist er hinter Dominik Paris und Beat Feuz Dritter, doch dass er schnell ist, hat er bereits vor sieben Jahren in Wengen bewiesen. Mit 161,9 km/h wurde er im Haneggschuss geblitzt – bis heute ist kein höheres Tempo gemessen worden im Weltcup. Clarey ist 191 cm gross, 100 kg schwer, ein Gleiter mit Gardemassen. 2013 sei die Piste optimal präpariert, der Kurs direkter gesteckt gewesen als üblich, sagt er, «es war vorher und nachher nie so einfach, hier zu fahren». Hannes Reichelt erreichte 160,34 km/h, Marc Gisin kam als schnellster Schweizer auf 158,90. Clarey, damals Fünfter, war der heimliche Star des Rennens. In den USA lief die Geschichte über seinen Rekord rauf und runter, knackte er doch als Erster die 100 Meilen.
Radar am «falschen» Ort
Clareys Marke dürfte so schnell nicht gebrochen werden. Wobei die FIS den Höchstwert ohnehin nicht anerkennt, dieser inoffiziellen Charakter hat. «Wir wollen keine Rekordjagd», sagt Hannes Trinkl, beim Internationalen Skiverband als Renndirektor der Speed-Bewerbe tätig. Die FIS ist bestrebt, die Abfahrten zu verlangsamen. In den letzten Wintern wurde das Tempo im Haneggschuss mit einem Sprung gedrosselt, nun ist die Streckenführung in der Waldschneise ein wenig kurviger als gewöhnlich. Knapp 150 km/h dürften die Fahrer erreichen, was in etwa Trinkls Vorstellungen entspricht. Er sagt: «Danach kommt ein Flachstück. Würde jemand bei noch höherer Geschwindigkeit an einer Stelle mit wenig Neigung stürzen, wäre der Aufprall brutal – und nicht mehr zu verantworten.»
Geht es nach Clarey, wären bis zu 180 km/h möglich.
Häufig werden Tempomessgeräte in den Abfahrten bewusst nicht in den schnellsten Bereichen aufgestellt. Was Beat Feuz nicht nachvollziehen kann. «Für den Zuschauer wäre das attraktiv», sagt der Emmentaler, «und nur weil kein Radar steht, fahren wir nicht langsamer durch.» Clarey spricht von einer verpassten Chance. «In Wengen beträgt die Durchschnittsgeschwindigkeit 100, in Bormio fast 115 km/h. Das sollte den Zuschauern vor Augen geführt werden – dann würden junge Leute Skirennen vielleicht nicht mehr langweilig finden.» Offenbar geht es in dieser Thematik auch um Versicherungsfragen. Trinkl jedenfalls mag darauf nicht näher eingehen.
Clarey wünscht sich mehr Abfahrten mit langen Geradeaus-Passagen. Geht es nach ihm, wären bis zu 180 km/h möglich. Auch durch den Haneggschuss ginge es schneller, dieser jedoch wird erst nach zwei Minuten passiert, weshalb die Oberschenkel der Athleten blau sind, die Position nicht mehr ganz so tief ist.
Trauma nach Todesfall
Neben dem Haneggschuss gilt der Zielschuss in Kitzbühel als schnellste Stelle, nicht nur Daniel Albrecht ist diese zum Verhängnis geworden. Ist Skifahren gefährlich? «Ja», sagt Clarey. Unverantwortlich? «Nein. Jedenfalls nicht im Rennen.» In den Trainings seien die Sicherheitsvorkehrungen weniger gut, es fehle an Netzen, an breiten Sturzräumen. Aus finanziellen Gründen und wegen zu wenig Personal ist es unmöglich, Weltcupstandard zu gewährleisten. Die Problematik sei erkannt, sagt Clarey, «Abfahrt wird immer weniger trainiert. Aber wir sind gezwungen, dieses Spiel mitzuspielen.»
«Völlig verrückt, was wir hier tun.»
Er weiss, wovon er spricht. Im November 2017 prallte David Poisson während des Trainings in Kanada in einen Baum und starb, er war einer von Clareys engsten Freunden. Clarey war traumatisiert, wie ein Geist sei er durch den Winter gezogen. «Ich war da und doch abwesend, habe kaum Erinnerungen an diese Zeit.» Ungern spricht er über den Unfall, sagt nur, er habe lernen müssen, Ängste zu überwinden. Sowieso: Jeder Skifahrer habe mal Angst, «bei mir war es schlimm mit 20, 21. Auch danach stand ich einmal verletzt am Pistenrand und dachte: Völlig verrückt, was wir hier tun.»
Nach Poissons Tod dachte Clarey ans Aufhören. Er tat es nicht und gewann in Åre WM-Silber im Super-G. Mit dem Widerspruch konfrontiert, der sich aus seiner Tempojagd und der Trauer um den verunglückten Kollegen ergibt, kehrt Clarey in sich. Er sagt: «Jeder weiss, worauf er sich einlässt.»
Kunstschnee macht Strecke sicherer
Nach den schlimmen Ereignissen vor zwei Jahren, als kurz nach Poisson auch der deutsche Nachwuchsfahrer Max Burkhart ums Leben kam, ist die Szene von Tragödien verschont geblieben. Trinkl sagt, er schlafe ruhiger als auch schon. Er sieht gar einen Vorteil im Schneemangel: Weil kaum Naturschnee liege, sei es einfacher, Pisten perfekt zu präparieren. «Hochwertiger Kunstschnee ist gut zu verarbeiten. Die Strecke wird dadurch sicherer.»
Johan Clarey zumindest ist in den letzten sechs Jahren unversehrt geblieben. Womöglich klappt es ja doch noch mit der Zusatzversicherung.
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