Kriegsfront in der ÜbersichtWie Russland die Ostukraine langsam erobert
Putins Truppen machen nun vermehrt Gewinne, nach Mariupol werden bereits die nächsten Städte eingekesselt. Die Ukraine gibt aber keinen Millimeter nach – und will alle Gebiete zurück.
Mit der russischen Einnahme von Mariupol rückt Putin näher an ein Mindestkriegsziel, die Eroberung der Ostukraine. Nachdem die Regierung in Kiew die Invasoren seit Kriegsbeginn allmählich wieder zurückdrängen konnte, scheint nun eine Phase eingetreten, in der die Ukraine laufend Gebiete an die Angreifer verliert. Tatsächlich sind seit dem Fall von Mariupol schon die nächsten strategisch wichtigen Städte unter Beschuss und werden von russischen Truppen eingekesselt, Putins Offensive kommt so gesehen voran, wenn auch nur langsam.
Allerdings gehen die Gebietsgewinne aber mit hohen Verlusten auf beiden Seiten einher. Der Präsident der Ukraine, Wolodimir Selenski, sagte in seiner letzten Videoansprache, dass täglich 50 bis 100 Ukrainerinnen und Ukrainer an der Front sterben. Es sei «die schwerste Front in unserem Land». Wie die Lage in der Ostukraine derzeit aussieht, zeigen Karten, Berichte von Offiziellen und Einschätzungen von Fachleuten.
Sjewjerodonezk
Der ukrainische Gouverneur des Verwaltungsbezirks Luhansk hat am Montagmorgen auf Telegram über die russischen Vorstösse informiert. Serhi Haidai spricht von Angriffen an drei Punkten: Sjewjerodonezk, Popasna und Bilohoriwka. Sjewjerodonezk ist ein Ort mit rund 100’000 Einwohnerinnen und Einwohnern im Westen von Luhansk und ist durch den Fluss Siwerski Donez von der ungefähr gleich grossen Stadt Lissitschansk getrennt.
Die Nachbarstädte sind ein wichtiger Standort der ukrainischen Chemieindustrie und bilden das letzte grosse Angriffsziel in Luhansk. Popasna und Bilohoriwka liegen im Süden und Westen von Sjewjerodonezk und Lissitschansk.
Um die Nachbarstädte wird nun eine Vernichtungsschlacht wie in Mariupol befürchtet, welches bei den Artilleriebeschüssen zu grossen Teilen zerstört wurde. In Popasna und Bilohoriwka gehe es den Russen darum, die Region von ukrainischer Verstärkung abzuschneiden und die Autobahn zwischen Lissitschansk und Bachmut einzunehmen, schreibt Haidai.
Ein Problem sei, dass die «Verräter» der selbst ernannten Volksrepublik Luhansk die Gegend mit allen Strassen und Brücken gut kennen, das mache die Situation sehr schwierig. Man halte die Invasion aber zurück und bereite eine gross angelegte Gegenoffensive im Sommer vor, heisst es im Lagebericht am Montagmorgen.
Auch die Expertinnen und Experten des unabhängigen Institute for the Study of War (ISW) beschreiben in der aktuellsten Einschätzung die geplante Einkesselung von Sjewjerodonezk. Nach der bereits erfolgten Einnahme von Rubischne im Norden der Stadt wurden demnach russische Offensiven rund um Poposna im Süden gemeldet. Damit soll die Stadt komplett umzingelt und wichtige Nachschubstrassen sowie Fluchtrouten sollen versperrt werden. «Die Russen löschen Sjewjerodonezk wie Mariupol aus», erklärte Haidai die Taktik der Angreifer auf Telegram.
Bereits letzte Woche hat der russische Beschuss der Stadt begonnen, Einwohnerinnen und Einwohner sind in Luftschutzbunker und die Keller ihrer Wohnhäuser geflüchtet. Das Institute for the Study of War meldet zudem Vorstösse in Richtung Bachmut, im Südwesten von Sjewjerodonezk, um die Versorgungslinie in die Stadt zu unterbrechen. Die Einschätzung kommt aber zum Schluss, dass Russland nicht genügend Ressourcen habe, um beide Ziele gleichzeitig erreichen zu können. Zudem heisst es, dass die russische Armee derzeit nur «minimale Gebietsgewinne» mache.
Saporischschja
Ukrainische Partisanen haben am Montagmorgen einen Sprengstoffanschlag auf den von Russland eingesetzten Bürgermeister in Enerhodar verübt. Es handle sich um einen gezielten Angriff, bestätigte die Militärverwaltung der Region Saporischschja. Der Anschlag folgte einen Tag nach einem russischen Raketenangriff auf die Stadt Wilnjansk unmittelbar östlich der Stadt Saporischschja, wohin viele Überlebende aus Mariupol geflohen sind.
In Enerhodar befindet sich das Atomkraftwerk Saporischschja, welches Anfang März von russischen Truppen angegriffen und besetzt wurde. Während das Gebiet bis zum Kachowkaer Stausee seither von russischen Truppen kontrolliert wird, ist Saporischschja in ukrainischen Händen verblieben.
Der russische Vizeregierungschef Marat Chusnullin hatte letzte Woche angekündigt, dass die eroberten Teile des Verwaltungsbezirks Saporischschja an Russland angebunden werden sollen. Das Gebiet werde integriert, und die Ukraine müsse künftig zahlen, wenn sie Strom aus dem leistungsfähigsten AKW in Europa beziehen wolle.
Nun scheint Russland weitere Gebietseroberungen anzustreben oder zumindest ihre Verteidigungsstellung verbessern zu wollen. Die Militärverwaltung von Saporischschja berichtet auf Telegram von Kampfhandlungen am Stausee. In Wassiljewka gebe es mittlerweile mehr russische Soldaten als Einwohnerinnen und Einwohner, gleiches gelte für andere Dörfer der Region. Die Invasoren hätten an zwei Orten Gasleitungen blockiert und die Wasserversorgung beschädigt.
Weissrussland
Im Nordwesten der Ukraine könnte eine weitere Attacke aus Weissrussland erfolgen, befürchtet Kiew. Derzeit reden der weissrussische Präsident Alexander Lukaschenko und der russische Präsident Wladimir Putin in Sotschi am Schwarzen Meer über die Zukunft der beiden Länder. Gemäss Agentur Interfax ist eine Zusammenarbeit in einem Unionsstaat ein zentrales Thema der Gespräche, Experten schätzen einen möglichen Anschluss von Weissrussland an Russland als realistisch ein.
Bislang hat Weissrussland die Beteiligung eigener Soldaten am Kriegsgeschehen stets abgestritten, der von Moskau abhängige Lukaschenko liess die russische Armee aber frei auf seinem Staatsgebiet gewähren. Von dort stiessen die Invasoren am ersten Kriegstag dann in Richtung Kiew vor.
Und jetzt warnt die Ukraine vor Aktivitäten weissrussischer Truppen an der Grenze. Kiew muss deshalb einen Teil seiner Leute an der Grenze zu Weissrussland positionieren, wie der «Guardian» berichtet.
Die britische Zeitung erhielt nach eigenen Angaben Einblick in die Verteidigungslinie der Ukrainer an der Grenze, unter der Bedingung, diese nicht zu veröffentlichen. Demnach haben sich Mitglieder der Territorialverteidigung in den Wäldern in Schützengräben verschanzt. Diese von der Armee unabhängige Einheit besteht aus Reservisten und Freiwilligen, die Jüngsten sind 19-jährig, die Ältesten über 60. Seit Kriegsbeginn wurde die Territorialverteidigung massiv aufgestockt, und in der internationalen Legion dienen auch ausländische Kämpferinnen und Kämpfer.
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Ob es tatsächlich einen weiteren Angriff aus weissrussischem Gebiet auf die Ukraine geben wird, ist unklar. Die Bedrohung reiche aber bereits, um Personal an der Grenze zu binden, welches sonst im Osten zur Verstärkung eingesetzt werden könnte, erklärt das britische Verteidigungsministerium die Strategie. So gesehen funktioniert die Taktik der Verbündeten Russland und Weissrussland.
Die Soldaten im Wald würden es begrüssen, wenn es nicht zu weiteren Attacken kommen würde, wie sie gegenüber dem «Guardian» sagen. Mit AK-47 bewaffnet harren sie im Wald aus und bewachen ihre Heimat, meist stammen sie aus den Ortschaften in der Gegend und kennen sich gegenseitig. Ihre grösste Stärke im Falle eines Angriffs seien ihre Kenntnisse der lokalen Verhältnisse: Die Region besteht hauptsächlich aus dichten Wäldern mit sumpfigem Grund und schmalen Strassen. Kein Angreifer habe diese Position je einnehmen und halten können, erklärt ein Sprecher gegenüber dem «Guardian».
Ukraine: Vollständige Rückeroberung
Die Eroberung der gesamten Ostukraine wäre für Putin ein Mindestkriegsziel (lesen Sie hier unsere Analyse dazu). So könnte er einen Gürtel von der Krim über Cherson, Saporischschja. Donezk und Luhansk bis Charkiw schaffen und damit alle diese Gebiete mit Russland verbinden. Möglich wäre dann, dass sich der russische Präsident mit den Eroberungen zufriedengibt und der Krieg auf diplomatischem Weg beendet werden könnte.
Gemäss dem polnischen Präsidenten Andrzej Duda wäre dieses Szenario aber ein «heftiger Schlag» für den Westen. Es gebe aber beunruhigende Stimmen, welche sagten, dass man Putin diese Gebiete überlassen sollte, mahnte Duda in seiner Rede vor dem ukrainischen Parlament am Sonntag. Er war der erste ausländische Staatschef, der seit Kriegsbeginn dort sprach. «Nur die Ukraine hat das Recht, über die eigene Zukunft zu entscheiden», fügte er an.
Zu den für Duda und auch die Ukraine beunruhigenden Stimmen gehört ein Leitartikel der «New York Times», der eine komplette Rückeroberung der von Russland eroberten Gebiete als «unrealistisch» bezeichnet und «territoriale Kompromisse» erwähnte. Auch unsere Analyse bezeichnet die Rückeroberung der geraubten Gebiete als unrealistisch.
Der ukrainische Präsidentenberater Michailo Podoljak kritisiert diese Sichtweise stark. «Jedes Zugeständnis an Russland ist kein Weg zum Frieden, sondern ein um Jahre verschobener Krieg. Die Ukraine tauscht weder ihre Souveränität noch Gebiete und die dort lebenden Ukrainer ein. Es ist schade, dass wir solch einfache Dinge so seriösen Medien wie der ‹New York Times› erklären müssen», schreibt er auf Twitter.
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Wenn man Putin jetzt nicht besiege, werde der Krieg später umso heftiger und blutiger geführt werden, meint Podoljak.
Auch Präsident Selenski vertrat diese Position schon mehrfach, sein Stabschef Andri Jermak bekräftigte die Haltung am Sonntag auf Twitter. «Der Krieg muss mit der vollständigen Wiederherstellung der territorialen Integrität und Souveränität enden», schrieb er. Das sei dann der gemeinsame Sieg mit der zivilisierten Welt, denn die Ukraine verteidige mehr als nur sich allein.
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