Das neue soziale Medium BerealWie Instagram, bloss ohne die Selbstinszenierung
Die grossen Social-Media-Plattformen fechten einen Kampf um junge Nutzerinnen und Nutzer aus. Bereal will Risiken für die psychische Gesundheit entgegenwirken: Alle sollen sich ohne Show präsentieren.
Instagram ist erfolgreich bei jungen Nutzerinnen und Nutzern. Mehr als eine Milliarde Personen hatten sich 2021 registriert. Gut 31 Prozent sind zwischen 18 und 24 Jahre alt und fast 43 Prozent stammen aus der Kategorie der 25- bis 34-Jährigen. Das ist eine aktive und begeisterungsfähige Gruppe – und darum attraktiv für die Betreiber der Plattform und für die Werber.
Die Jugend ist entsprechend umkämpft: Auch Tiktok bemüht sich um sie. Die chinesische Videoplattform hat im Herbst 2021 ebenfalls die Grenze von einer Milliarde Nutzern geknackt. Der Snapchat-Messenger hat im Vergleich dazu zwar «nur» 500 Millionen Nutzer, doch die sind ausgesprochen loyal. In einer Umfrage des Finanzdienstleisters Piper Sandler gaben 35 Prozent der Teenager an, Snapchat sei ihre Lieblingsplattform. Tiktok kam auf 30 Prozent, Instagram bloss auf 22 Prozent – Tendenz rückläufig.
Das scheint Mark Zuckerberg in helle Aufruhr zu versetzen. Gemäss einem Bericht der «New York Times» aus dem letzten Jahr sieht er das als existenzielle Bedrohung. Die Zeitung schreibt im gleichen Bericht, Meta (vormals Facebook) habe einiges für den Erfolg in dieser Zielgruppe getan: Ab 2018 habe das Unternehmen fast das gesamte globale Instagram-Marketingbudget von 390 Millionen Dollar pro Jahr für die Umwerbung von Teenagern eingesetzt.
Auf die Nutzerinnen nimmt niemand Rücksicht
In diesem Kampf um die Vorherrschaft besteht die Gefahr, dass die Nutzerinnen und Nutzer unter die Räder kommen: Auf die psychische Gesundheit nimmt der Konzern wenig Rücksicht. Die Whistleblowerin Frances Haugen hatte im Oktober 2021 gesagt, bei Interessenkonflikten habe sich Facebook meistens für die eigenen Anliegen, sprich den Unternehmensgewinn entschieden, nicht für die Bedürfnisse der Gesellschaft.
Auch Instagram sei Teil dieses Problems, indem dort konstant Schönheitsideale gezeigt würden, die bei jungen Frauen und Mädchen Essstörungen, Magersucht und Depressionen fördern könnten.
Einen Gegenentwurf zur Instagram-Scheinwelt hat Alexis Barreyat ins Netz gestellt: Seine App (für Android und das iPhone) verrät den Anspruch schon im Namen Bereal («be real») und will, dass wir uns authentisch zeigen. Es gibt keine Filter, mit denen man seine Fotos aufmöbeln könnte – und vor allem nimmt einem die App die Zeit für grossartige Inszenierungen.
Sie funktioniert nämlich so, dass sie einem zu einem zufälligen Zeitpunkt während des Tages die Aufforderung schickt, ein Foto zu posten. Ab dann hat man genau zwei Minuten Zeit, seine Aufnahme anzufertigen und hochzuladen. Das reicht, um kompromittierenden Situationen aus dem Weg zu gehen und vor dem Selfie das Geschäft auf dem WC oder in der Dusche zu Ende zu bringen. Aber man hat keine Zeit, sich gross in Schale oder in Pose zu werfen. Es ist zwar möglich, auch nach Ablauf der zwei Minuten ein Foto aufzunehmen. Doch die App weist aus, mit wie viel Verspätung ein Schnappschuss hochgeladen wurde: Wenn ein perfektes Bild mit zwanzig Minuten Verzögerung auftaucht, kann sich jeder seinen Teil dazu denken.
Drückt man auf den Auslöser, nimmt die App gleichzeitig ein Bild über die Front- und die Rückkamera auf: Auf diese Weise sieht man nicht nur die abgelichtete Szene, sondern gleichzeitig auch deren Making-of. Zwar ist nicht die ganze Umgebung sichtbar, aber doch ein beträchtlicher Teil.
Ein Geben und ein Nehmen
Die Fotos, die man so schiesst, bekommen nur die Kontakte zu sehen, die selbst ein Foto veröffentlicht haben. Dieses Geben und Nehmen stellt Gleichberechtigung her und ist sicherlich dazu gedacht, das riesige Gefälle zwischen Influencern und der Gefolgschaft zu verhindern, das es bei Instagram gibt.
Allerdings hält auch Bereal ein Türchen für Leute offen, die sich gern auf einer grösseren Bühne präsentieren würden: Ein Foto kann nicht nur für die Freunde, sondern auch für den «Discovery»-Feed freigegeben werden: Dort sind die Fotos öffentlich einsehbar. Als Fremder kann man sie nicht kommentieren, aber mit einem «RealMoji» versehen: Dazu wählt man eines von fünf Emojis oder macht in einem Selfie den passenden Gesichtsausdruck.
Im öffentlichen «Discovery»-Feed findet man genau das, was man erwartet: banale Fotos von Leuten, die mit Freunden abhängen, vor Laptops sitzen oder teils auch wirklich eklige Dinge tun: Nutzerin Rosahueta liest ein offenbar medizinisches Fachbuch, in dem es ekelhafte Fotos von deformierten Zehennägeln gibt: zu lang, grünlich verfärbt, blutig eingewachsen – sodass man sich fragt, ob man wirklich immer so genau wissen möchte, womit sich die eigenen Freunde beschäftigen.
Etwas asozial ist es schon
Die Idee, ungekünstelte Eindrücke zu vermitteln, hat etwas für sich. Es leuchtet auch ein, dass es das Zeitlimit für echte Spontaneität braucht. Allerdings verleiht das der App auch einen asozialen Dreh: Sie zwingt uns Nutzerinnen und Nutzern ihren Zeitplan auf und macht es noch schwieriger, das Smartphone einmal in der Schublade verschwinden zu lassen – es könnte ja sein, dass just in dem Augenblick unser Bereal-Foto gefragt ist. Ganz zu schweigen von all den Teenies, die Fotos während Schulstunden machen oder durch eine Prüfung fliegen, weil uneingeweihte Professoren ihre Fotografieraktion für Spicken halten.
Es ist nicht anzunehmen, dass diese App Instagram so bald ablösen wird. Aber es spricht nichts dagegen, sich mit ihrer Hilfe ab und zu anzusehen, wie das richtige Leben ausschaut. Als Augenöffner funktioniert sie gut.
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