Reaktorunfall FukushimaWie gefährlich ist verseuchtes Kühlwasser im Meer?
Japan will eine Million Tonnen Wasser aus dem havarierten Atomkraftwerk im Meer entsorgen. Auch Schweizer Kraftwerke sondern die giftige Substanz aus.
Seit das Atomkraftwerk im März 2011 durch einen Tsunami zerstört worden ist, müssen Reaktoren mit Wasser gekühlt werden, um eine Kernschmelze zu verhindern. Die japanische Regierung will mit den Arbeiten zum Ablassen des verstrahlten Kühlwassers ins Meer in etwa zwei Jahren beginnen. Die USA sagten, der Schritt entspreche den globalen Standards, aber Japans Nachbarländer kritisieren den Plan. Auch japanische Fischergruppen aus der Präfektur Fukushima haben sich entschieden gegen das Ablassen des Wassers in den Ozean ausgesprochen. Welche Menge kontaminiertes Kühlwasser muss entsorgt werden? Wie gefährlich ist die Strahlung für das Meer? Wurde auch in der Schweiz schon kontaminiertes Kühlwasser ins Gewässer eingeleitet? Wie gefährlich ist die Strahlendosis? Wir beantworten die wichtigsten Fragen.
Um was für Kühlwasser handelt es sich?
Das kontaminierte Wasser stammt teils aus der Kühlung der zerstörten Reaktorkerne und teils aus dem Grundwasser, das sich trotz diverser Barrieren nicht vollständig von den Reaktorblöcken fernhalten lässt und mit wasserlöslichen radioaktiven Elementen in Kontakt kommt. Damit das kontaminierte Wasser bisher nicht in den Pazifik gelangt, wird es aufgefangen.
Welche Menge Kühlwasser muss entsorgt werden?
Es geht um rund 1000 Tanks, die auf dem Kraftwerksgelände lagern. Deren Inhalt entspricht insgesamt knapp 500 olympischen Schwimmbecken voll Wasser. Spätestens 2022 soll es aber keine weiteren Lagerkapazitäten mehr geben.
Wurde das kontaminierte Wasser bisher behandelt?
Das Kühlwasser wurde von radioaktiven Isotopen befreit – mit Ausnahme des radioaktiven Wasserstoff-Isotops Tritium. Dessen Abtrennung ist bei diesen Mengen und dem geringen Tritiumanteil praktisch unmöglich.
Wie gefährlich ist Tritium?
Natürlich ist mit Tritium nicht zu spassen. Als Wasserstoff-Isotop kann es dauerhaft in biologische Moleküle eingebaut werden, auch in die Erbsubstanz. Reichert es sich in einem Organismus an, kann das gesundheitliche Folgen haben. «Allerdings ist das in den Tanks lagernde Wasser sehr schwach radioaktiv», sagt Georg Schwarz, stellvertretender Direktor der Schweizer Atomaufsichtsbehörde (Ensi). «Mit der richtigen Verdünnung könnte man das ohne Probleme ins Meer geben.» Im Mittel hat das Wasser in den Tanks gemäss Angaben des Kraftwerksbetreibers Tepco eine radioaktive Aktivität von 730’000 Becquerel (Bq) pro Liter. Eine von Tepco vorgeschlagene Strategie besteht darin, das Wasser auf eine Aktivität von rund 1500 Bq pro Liter zu verdünnen und dann über einen Zeitraum von 30 Jahren in den Pazifik zu leiten. So würde man weit unter dem in Japan geltenden Grenzwert bleiben, der bei 60’000 Bq pro Liter liegt.
Wurde schon vorher mit Tritium verseuchtes Kühlwasser ins Meer eingeleitet?
Auch während des Betriebs emittieren Kernkraftwerke Tritium – in erster Linie über das aufbereitete Kühlwasser. «Fukushima Daiichi hat schon im Normalbetrieb in etwa die gleiche Menge Tritium ins Wasser abgegeben, wie man es nun machen würde, wenn man das angesammelte Wasser über 30 Jahre ins Meer leitet», sagt Horst-Michael Prasser, seit kurzem emeritierter Professor für Kernenergiesysteme der ETH Zürich. Walter Rüegg, unabhängiger Experte für Strahlenbiologie und langjähriger Chefphysiker der Schweizer Armee, bestätigt das.
Gelangt auch bei Schweizer Kernkraftwerken Tritium in die Umwelt?
Tatsächlich sondern die Schweizer AKW gemäss Strahlenschutzbericht des Ensi im Jahr 2019 Tritium mit einer Aktivität von rund 33 Billionen Bq ab. In 30 Jahren sind das rund 1000 Billionen Bq. Die gesamte Aktivität des in den Tanks von Fukushima gelagerten Tritiums ist von der gleichen Grössenordnung und beträgt gemäss Tepco derzeit rund 900 Billionen Bq.
Wie schädlich ist diese Strahlendosis?
Walter Rüegg macht eine Einordnung mit zwei Vergleichen: Die kosmische Strahlung produziert auf der Fläche der Schweiz ungefähr die gleiche Menge Tritium, wie die Schweizer Kernkraftwerke abgeben. Und ein einziger Tagesausflug in die Alpen könne zu einer 100- bis 1000-mal höheren Strahlendosis führen, als wenn man ein Jahr lang das mit Tritium aus den Schweizer Kernkraftwerken belastete Wasser aus der Aare trinken würde. Die höchsten Tritium-Immissionen werden in der Schweiz übrigens nicht in Zusammenhang mit der Kernenergie erreicht, sondern bei der Uhrenindustrie. Dort kommt das radioaktive Element zum Beispiel bei der Herstellung von Leuchtquellen für Zifferblätter zum Einsatz.
Wie geht die japanische Regierung nun vor?
«Unter der Prämisse der strikten Einhaltung der festgelegten regulatorischen Standards wählen wir die Freisetzung im Meer», heisst es in einer Erklärung der japanischen Regierung. Das Wasser müsse zuvor erneut gefiltert und verdünnt werden, um schädliche Isotope zu entfernen und internationalen Standards zu entsprechen. Der gesamte Prozess werde vermutlich Jahrzehnte dauern.
Warum wehren sich Fischer trotzdem gegen die behördlichen Massnahmen?
Bereits 2017 formierte sich Widerstand gegen diese Pläne, vor allem vonseiten der lokalen Fischer. Für eine Petition wurden mehr als 250’000 Unterschriften gesammelt. Die Fischer befürchten, dass niemand mehr ihre Produkte kaufen möchte, wenn das Tritium-Wasser ins Meer geleitet wird. «Wenn Tepco 40 Jahre lang praktisch nicht über die Tritium-Abgaben laufender Meiler informiert, darf sich der Kraftwerksbetreiber nicht wundern, wenn es jetzt einen Aufschrei gibt», sagt Prasser. «Vertrauen gibt es nur gegen Offenheit, und zwar kontinuierlich praktizierte Offenheit.»
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