Guter Sex ist lernbarWie Frauen ihre Lust entdecken
Häufig ist Sexualität von fixen Vorstellungen geprägt. In einem Kurs lernen Frauen ihren Körper besser kennen und finden heraus, was ihnen guttut.
Weiche Matten, Kissen und Decken sind im Raum verteilt. In der Mitte zwei rote Tücher, drapiert in der Form von Venuslippen. Den offiziellen Begriff Schamlippen benutzt man in der Frauenpraxis Runa in Solothurn bewusst nicht. Denn ein Ziel des Kurses «Lust auf Lust» ist, dass die Teilnehmerinnen die Scham über ihre Sexualorgane ablegen, sich mit sich selbst anfreunden und ihren Körper entdecken. So können sie zu einem erfüllteren Sexualleben finden.
Gegen sieben Uhr trudeln die Frauen langsam ein, plaudern ein wenig und machen es sich auf den Matten bequem. Es ist der fünfte Kursabend, man kennt sich schon recht gut. Als Erstes steht eine Körperübung an: Rücken an Rücken drücken die Teilnehmerinnen gegeneinander. Plötzlich verringert eine von ihnen den Druck, während die andere möglichst stabil bleiben soll. «Auch in der körperlichen Begegnung kann man ganz bei sich bleiben», erklärt Kursleiterin Regina Widmer. «Entscheidet selbst, wann ihr genug Vertrauen habt, euch ganz hinzugeben. Das ist ein wichtiges Thema für uns Frauen.»
Wie sieht es da unten eigentlich aus?
Danach steht die Besprechung der Hausaufgaben auf dem Programm. Seit dem letzten Treffen haben sich die Teilnehmerinnen der Entdeckung ihrer Vulva gewidmet, also der äusseren Intimzone. Sie haben sie zu Hause mit einem Handspiegel betrachtet, berührend erforscht und mit einem wohlduftenden Öl gepflegt. «Ich habe als Kind gelernt, dass man das nicht macht», erzählt eine ältere Frau. «Doch es tut mir sehr gut.» Auch eine etwa 40-Jährige merkt an, sie habe es schön gefunden, ihrer Vulva Zeit und Aufmerksamkeit zu schenken.
Die Solothurner Gynäkologin Regina Widmer bietet seit rund 15 Jahren Frauenlustkurse an und ist damit eine der erfahrensten Expertinnen der Schweiz auf diesem Gebiet. Bereits während ihrer Fachärztinnenausbildung störte sie sich daran, dass Sexualität kaum eine Rolle spielte. «Wir lernten vor allem, das Spekulum in die Vagina einzuführen sowie die Brüste und inneren Geschlechtsorgane abzutasten», erinnert sich die 64-jährige Medizinerin.
Deshalb bildete sie sich später zur Sexologin weiter. Bei den gynäkologischen Untersuchungen in der Praxis fragt sie ihre Patientinnen stets auch nach der sexuellen Zufriedenheit. Viele finden auf diesem Weg in ihren Kurs.
So gross ist die Klitoris
Die acht Kursabende und ein ganzer Samstag sind in zehn Schritten aufgebaut. Zu Beginn formuliert jede Frau ihr eigenes Ziel – etwa endlich wieder Freude am Sex zu gewinnen, Unsicherheiten und Hemmungen zu überwinden, Genuss und Hingabe zu erreichen, den ultimativen Orgasmus zu erleben oder eine neue Beziehung zum eigenen Körper und zur eigenen Weiblichkeit zu finden.
Im Weiteren lernen die Frauen Techniken kennen wie das Schaukeln des Beckens, den Einsatz des Atems und die Entspannung des Beckenbodens. Damit lassen sich die Durchblutung des Beckens anregen und die Erregung steigern. Zudem erhalten sie Informationen über Anatomie und Funktion der Geschlechtsorgane. «Auch heute noch fehlt vielen Frauen ein fundiertes Wissen darüber», sagt Kursleiterin Widmer. Zum Beispiel sei immer noch wenig bekannt, dass die Klitoris nicht nur aus diesem erbsengrossen Knöpfchen vor dem Harnröhrenausgang besteht, sondern dass sich von da aus zwei Schenkel beidseitig bis zum Vaginalausgang erstrecken. Die Ärztin erklärt das Geschlechtsteil jeweils anhand eines Kunststoffmodells.
Besuch im Sexshop
Je nach Interesse besuchen die Teilnehmerinnen auch mal zusammen einen Sexshop nach Ladenschluss, um sich ungestört bei den erotischen Spielzeugen umzuschauen. Oder sie probieren in einem Secondhandladen verschiedene Kleidungsstücke an, um ihren eigenen weiblichen Stil zu erweitern. Damit ein möglichst vielseitiger und angeregter Austausch zustande kommt, hat Widmer am liebsten zwei bis drei Generationen in einem Kurs. Während der Treffen sind die Teilnehmerinnen stets bekleidet.
Die 26-jährige Ramona hat sich angemeldet, um ihre Perspektive zu öffnen und sich von einer tabuisierten, vom Alltag separierten Sexualität zu lösen. «Eine körperliche Begegnung kann ganz verschieden ablaufen», ist ihr noch stärker bewusst geworden. «Mit anderen darüber zu sprechen, ist inspirierend.» Nach ihrem Verständnis fliesst Sexualität in viele alltägliche Bereiche ein – zum Beispiel in Form von sinnlichen Erlebnissen: nackt in einem See baden, sich selber streicheln oder sich nackt ins Bett legen – auch allein. Ihr Freund sei sehr interessiert an ihren neuen Erfahrungen, sagt die Bernerin. Als Pflegefachfrau hat sie in der Ausbildung zwar einiges über Anatomie gelernt. Doch die weiblichen Geschlechtsorgane seien nur oberflächlich behandelt worden.
Ruth (64) will künftig öfter die Initiative ergreifen
Dagegen wünscht sich Ruth, durch den Kurs neue Formen der Sexualität zu entdecken und sich von festgefahrenen Vorstellungen zu befreien. «Als Mädchen wurde mir unterschwellig vermittelt, dass ich weniger wichtig bin als meine Brüder», sagt die 64-Jährige. «Das sitzt tief drin.» Mit ihrem neuen Partner will sie jetzt lernen, öfter die Initiative zu ergreifen und aktiver zu sein beim Sex. Wie bei den meisten Paaren in diesem Alter werden zudem Scheidentrockenheit und schwächere, unzuverlässigere Erektionen zum Thema. «Wir müssen zusammen lernen, die Erwartungshaltung zu dämpfen und nach neuen Möglichkeiten zu suchen», sagt die Fusspflegerin, die in ihrer Freizeit bei einer Trachtengruppe mitmacht.
«Alte, überholte und störende Verbote sollten wir ghüdere.»
Zum Abschluss der zweieinhalb Stunden unternehmen die Frauen eine Art meditative Körperreise. «Ihr liegt am Strand, und die Wellen kommen und gehen», führt Regina Widmer durch die Entspannung. Anders als bei gängigen Achtsamkeitsübungen lenkt sie den Fokus aber bald auf die Geschlechtsorgane: «Stellt euch vor, ihr würdet eure eigene Vagina betreten. Wie sieht es da aus? Ist es eher hell oder dunkel? Welche Form hat die Öffnung?»
Als Hausaufgabe bis zum nächsten Treffen werden die Teilnehmerinnen ihre Vagina mit dem Finger erforschen und ihre Empfindungen beobachten. Sich mit seinen intimen Organen zu beschäftigen, trage zu einer Erotisierung des Alltags und letztlich zu mehr Lust bei, sagt Regina Widmer. «Alte, überholte und störende Verbote sollten wir ghüdere.»
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