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Durchbruch in der Augenmedizin
Wie ein Blinder wieder sehen lernt

Messungen der Gehirnaktivität (EEG) bestätigen beim französischen Patienten, dass die Sehzentren aktiv sind.
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Er war 18 Jahre alt, als der junge Franzose die Diagnose bekam: Retinitis pigmentosa. Damit war klar, dass er bald erblinden würde. Denn bei dieser Erbkrankheit gehen nach und nach Zellen in der Netzhaut des Auges kaputt, die für das Sehen entscheidend sind. Jetzt ist dieser Mann 58 Jahre alt – und der erste Blinde, der dank einer neuen Methode wieder sehen kann. Zumindest ein bisschen. Aber selbst das ist ein grosser Erfolg.

Der französische Patient sei überwältigt gewesen, als er plötzlich draussen auf der Strasse einen Zebrastreifen habe erkennen können, sagte José-Alain Sahel an einem Medienanlass letzte Woche. Der Augenspezialist hat am Institut de la Vision in Paris zusammen mit Kolleginnen und Kollegen die Studie durchgeführt. Die Methode, die sogenannte optogenetische Therapie, hat derweil ein Team um den Basler Forscher Botond Roska vom Institut für molekulare und klinische Ophthalmologie Basel (IOB) entwickelt.

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Der vormals komplett blinde Patient konnte aber nicht nur die Streifen erkennen, sondern lernte auch, Gegenstände wahrzunehmen, die im Testzentrum in Paris vor ihm auf einem weissen Tisch lagen. Er konnte ein dunkles Notizheft erkennen, eine kleinere Schachtel mit Heftklammern greifen und die Anzahl von drei Wassergläsern richtig bestimmen.

Sahel und Roska haben zusammen mit ihren Gruppen den Durchbruch dieser neuen Therapie am Pfingstmontag im angesehenen Fachjournal «Nature Medicine» veröffentlicht. Zunächst hätten sie den Erfolg bei diesem einen Patienten beschrieben, räumen die Wissenschaftler ein. Dabei haben sie sechs weitere behandelt. Aber da kam die Corona-Pandemie dazwischen, denn ein Teil der Strategie, die Blinden wieder sehend zu machen, liegt darin, sie mit einer Spezialbrille zu trainieren. «Das war im letzten Jahr nicht überall durchgängig möglich, beispielsweise nicht in Grossbritannien», sagte Roska. Die Patienten wurden in verschiedenen Zentren untersucht und geschult.

Injektion ins Auge

Die Therapie, die Roska und Sahel in den letzten 13 Jahren zusammen entwickelt und für die Behandlung angepasst haben, ist eine verblüffende molekularbiologische Technik. Die Forscher stellen den Patienten quasi neue Lichtrezeptoren zur Verfügung. Wenn die Zellen der Betroffenen in der Netzhaut zugrunde gehen, dann degenerieren auch diese lichtempfindlichen Proteine, welche die Lichtreize empfangen und an die Nervenzellen weitergeben. Der Sehnerv überträgt normalerweise die Signale ans Gehirn, wo sie zu Bildern zusammengesetzt werden.

Da bei den Retinitis-pigmentosa-Patienten viele der Netzhautzellen unwiederbringlich verloren sind, schleusen die Forscher ein Gen für einen solchen Lichtrezeptor ein – und zwar mithilfe von abgeschwächten Viren. Diese bringen ihre Fracht in bestimmte Zellen der Netzhaut ein, in diesem Fall in die sogenannten Ganglienzellen. «Das geschieht durch eine einmalige Injektion ins Auge, die ein Leben lang anhalten sollte», sagte Sahel. «Wir wissen aus Tierversuchen, dass es drei bis vier Monate dauert, bis sich in den Zellen die Lichtempfindlichkeit ausbildet», ergänzte Roska.

«In gesunden Augen arbeiten mindestens 20 Gene zusammen, um Lichtsignale einzufangen.»

Botond Roska, Institut für molekulare und klinische Ophthalmologie Basel

Die in die Netzhaut gespritzten Gene für die lichtempfindlichen Proteine stammen aus Mikroben. Warum es keine menschlichen sind, erklärte Roska: «In gesunden Augen arbeiten mindestens 20 Gene zusammen, um die Lichtsignale einzufangen.» Alle diese Gene in ein krankes Auge einzuschleusen, sei bislang schlicht unmöglich. Beim Rezeptor der Mikroben braucht es hingegen nur ein Gen, das vergleichsweise sehr leistungsfähig ist.

Das Prinzip macht aber auch deutlich: Die Wissenschaftler simulieren lediglich das menschliche Sehen. Sie können nicht die ursprüngliche Sehfähigkeit wiederherstellen. Konkret bedeutete das für den französischen Patienten: Um mit den neu eingefügten Rezeptoren Lichtsignale wahrnehmen zu können, benötigt er eine Spezialbrille. Er hat monatelang damit trainiert. Ohne Brille konnte er die Gegenstände auch nach der Behandlung nicht wahrnehmen.

José-Alain Sahel vom Institut de la Vision in Paris und Botond Roska vom Institut für molekulare und klinische Ophthalmologie Basel haben zusammen eine neue Therapie für Blinde entwickelt.

«Noch sieht die Brille etwas unförmig aus», sagt Roska, sie werde jedoch angepasst und verkleinert. Das Team tüftelt auch weiter an der Software, welche die Lichtsignale der Brille auf die Netzhaut des Patienten schickt.

Hendrik Scholl, der zusammen mit Botond Roska das Institut für molekulare und klinische Ophthalmologie Basel gegründet hat, ist von der Veröffentlichung seines Kollegen begeistert: «Diese erste Studie hat gezeigt, dass die Technik grundsätzlich auch beim Menschen funktioniert», sagt der Augenarzt.

Scholl ist derzeit zusammen mit Roska daran, in Basel ein verbessertes Verfahren als das am französischen Patienten angewandte zu entwickeln und zu testen. Dabei hat das Team die Virusfracht verändert, also ein Gen für einen anderen Lichtrezeptor gewählt. Welcher es ist, sagt Scholl noch nicht, das Verfahren werde gerade patentiert.

«In zwei bis drei Jahren könnten Patienten in Basel mit einer verbesserten Methode behandelt werden.»

Hendrik Scholl, Chefarzt der Augenklinik am Universitätsspital Basel

Zudem soll der Lichtrezeptor bei Scholls Methode nicht in die Ganglienzellen eingefügt werden. «Denn diese Zellen sind natürlicherweise nicht lichtempfindlich», sagt Scholl. Bei der verbesserten Methode werden die Rezeptoren direkt in die verbliebenen Sehzellen der Netzhaut eingefügt. In zwei bis drei Jahren könnte diese Methode erstmals an Schweizer Patienten zum Einsatz kommen, schätzt Scholl.

Der Augenexperte sieht zwar ein grosses Potenzial in der Optogenetik, er möchte aber bei den Betroffenen keine zu hohen Erwartungen wecken. Dass sie nach einer Therapie wieder Gesichter erkennen oder gar lesen können werden, ist zunächst nicht wahrscheinlich.

Eine andere Methode zur Behandlung von Blindheit ist die Gentherapie. Dieser Ansatz dient vor allem dazu, einen fortschreitenden Sehverlust aufzuhalten. In besonderen Fällen kann die Therapie aber auch zu einer Verbesserung des Sehens führen, etwa bei dem Gentherapeutikum, das im letzten Jahr in der Schweiz zugelassen worden ist: Luxturna. Es hilft Patienten, die wegen eines sehr seltenen Defekts in einem Gen namens RPE65 erblinden. In der Schweiz seien schätzungsweise 15 Menschen davon betroffen, sagt Scholl. Die Therapie transportiert eine korrekte Version des RPE65-Gens in die Zellen der Netzhaut.

Implantate in den Augen sind noch nicht ausgereift

So vielversprechend diese Therapie ist, sie eignet sich nicht, um auch alle anderen sogenannten Netzhautdystrophien zu behandeln, also Erkrankungen, bei denen die Netzhaut zerstört wird und zu denen auch Retinitis pigmentosa gehört. «Bei diesen Erkrankungen sind Mutationen in über 270 verschiedenen Genen beschrieben», sagt Scholl. Es ist zu aufwendig und zu teuer, für jede einzelne dieser Erkrankungen eine eigene Gentherapie zu entwickeln. Die Optogenetik umgeht hingegen dieses Problem, weil die Methode nicht spezifisch für einen Gendefekt, sondern generell wirkt.

Ebenso breit ist eine andere Therapie angelegt, die seit Jahren erforscht und angewendet wird. Dabei setzen Augenärzte Implantate ein, Retinaprothesen, die per Operation auf oder hinter die Netzhaut gebracht werden. «Daran wird sich die Optogenetik messen lassen», sagt Scholl. Der Augenspezialist ist aber von den bisherigen Erfolgen der Implantate noch nicht überzeugt. «Die Variabilität ist je nach Fall sehr gross», sagt er. Wenn eine Patientin mit einem Implantat etwas Sehfähigkeit zurückerlangt hat, so muss das nicht unbedingt auch für einen anderen Patienten gelten. Zudem sei von Studien bekannt, dass Patienten, die das Implantat je nach Bedarf an- oder ausschalten könnten, es im Alltag so gut wie nicht einsetzen würden.

«Das ist so, als schaue man permanent durch ein Schlüsselloch.»

Diego Ghezzi, Bioingenieur an der ETH Lausanne

Diego Ghezzi von der ETH Lausanne sieht dennoch ein grosses Potenzial bei den Implantaten. Er selber ist mit seinem Labor dabei, die Prothesen weiterzuentwickeln. «Bisherige Implantate ermöglichen den Patienten nur einen geringen Sehwinkel», sagt Ghezzi. Das sei so, als schauten sie permanent durch ein Schlüsselloch. Der Bioingenieur hat deshalb ein Implantat mit zahlreichen fotovoltaischen Sensoren ausgestattet, die zu einer sehr viel höheren Auflösung und einem bis zu dreimal grösseren Sehwinkel als herkömmliche Implantate führen sollen.

Ghezzi findet die Veröffentlichung von Sahel und Roska «wissenschaftlich sehr interessant». Als Konkurrenz betrachtet er die beiden unterschiedlichen Ansätze aber nicht. Seine Hoffnung ist, dass sich künftig einmal die Patienten entscheiden können werden, ob sie lieber ein Implantat ins Auge operiert oder ein fremdes Gen gespritzt bekommen wollen.

Eins nur muss klar sein: Wer das Augenlicht verloren hat, wird es durch diese Therapien nicht vollständig zurückerlangen können. Das Ziel sei, mithilfe dieser Methoden den Blinden ein neues, «künstliches» Sehen zu ermöglichen, sodass sie ihren Alltag besser meistern können, sagt Ghezzi.