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Szenen vom WEF Tag 1
Die Klitschkos sind die Stars in Davos

Witali Klitschko mit Ukraine-Flüchtlingen im Davoser Rathaus.
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Das Mädchen hat sich ein gelb-blaues Band in den dunklen Zopf geflochten. Es drückt die Hand seiner Mutter. Die beiden sitzen an diesem Montagabend etwas schüchtern mit rund 20 anderen Frauen und Kindern in der prachtvollen holzgetäfelten grossen Stube im Davoser Rathaus. Alle schauen erwartungsvoll auf die Tür. Dann betritt Witali Klitschko den Raum. Der Bürgermeister von Kiew ist einer der Stargäste am Weltwirtschaftsforum in Davos. Aber abseits des grossen WEF-Rummels nimmt sich Klitschko Zeit für ein Treffen mit Geflüchteten aus seiner Heimat, die in Davos untergekommen sind. 

Organisiert hat das Treffen der lokale Verein IG Offenes Davos gemeinsam mit dem Davoser Landammann Philipp Wilhelm. «Wir tun alles, was möglich ist, um euch und die Kinder schnell wieder in die Ukraine zurückzuholen», sagt Klitschko auf Englisch. Die Medienvertreter im Saal sollen seine Worte verstehen. Wie schnell das möglich ist, hängt unter anderem vom Westen ab und von der weiteren Hilfe, die die Ukraine bekommt. Diese Botschaft verbreiten nicht nur die Klitschko-Brüder, sondern auch der ukrainische Staatspräsident Wolodimir Selenski bei seiner mit Standing Ovations gefeierten Rede via Videostream am Vormittag. 

Die Ukraine steht klar im Mittelpunkt des Interesses an diesem ersten Tag des World Economic Forum. Und die Vertreter des kriegsgeschundenen Landes nutzen ihre Chance, vor der versammelten Elite aus Politik und Wirtschaft auf ihre Lage aufmerksam zu machen.

Selenski wirbt um Aufbauhilfe und Investitionen

In der grossen Kongresshalle in Davos sind schon lange vor dem Auftritt des ukrainischen Präsidenten Selenski die meisten der über 1200 Plätze besetzt. Davon profitiert Aussenminister Ignazio Cassis, der sein Grusswort vor vollen Rängen vortragen kann.

Als Selenski auf dem grossen Schirm erscheint, brandet spontaner Applaus auf. Der ukrainische Präsident – wie in den letzten Wochen im olivgrünen T-Shirt am Pult vor zwei ukrainischen Fahnen – sorgt einmal mehr mit einfachen Worten für Betroffenheit. Als WEF-Gründer Klaus Schwab ihn fragt, wie er sich die Zukunft seines Landes vorstelle, berichtet er von seinem derzeitigen Morgenritual, sich die Opferzahlen anzuschauen: «Heute haben wir 87 Menschen verloren, die Zukunft der Ukraine wird ohne diese 87 sein.»

Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski bei seiner Ansprache per Livestream an der Eröffnungskonferenz des WEF.

Noch mitten im Krieg wirbt Selenski bereits um Aufbauhilfe und um Investitionen. Firmen, die Russland noch nicht verlassen hätten, sollten dies nun tun. Denn sie könnten ja ihr Geschäft von der Ukraine aus betreiben. Und an die Adresse der Zuschauer im Davoser Kongresssaal mahnt er: «Sie alle, alle Europäer, alle Menschen in freiheitlichen Staaten, müssen jeder für sich fragen: Was habe ich getan, um der Ukraine zu helfen?» 

Die Ukraine kann die Bühne fast im Alleingang bespielen

Fast wortgleich sagt es Witali Klitschko, der Bürgermeister Kiews und Ex-Boxweltmeister. Zusammen mit seinem Bruder Wladimir tritt er nur eine Stunde später beim Open Forum auf. Das ist eine Veranstaltung am Rande des offiziellen, exklusiven WEF, die gleichzeitig stattfindet, jedoch allen Interessierten offensteht. Auf dem Podium stehend sagt er. «Jeder im Saal sollte sich selbst fragen: Was kann ich für die Ukraine tun?»

Klitschko sagt weiter, er verstehe, dass es für die Teilnehmenden im Saal, die das Grauen des Kriegs nicht mit eigenen Augen gesehen hätten, schwierig sei, Mitgefühl zu entwickeln. Das unsägliche Leid zu vermitteln, sei schwierig. Doch: «Wir haben gesehen, wie Teenager gefesselt und erschossen wurden – im Untergrund, in Autos. Wir haben in von Panzern überfahrenen Autos sterbliche Überreste von Kindern gesehen.»

«Hier wird das gemeinsame Vorgehen, wie wir Russland isolieren können, geplant.»

Wladimir Klitschko

Dass der Ukraine beim WEF so viel Aufmerksamkeit zuteilwird, liegt nicht nur am Krieg. Sondern auch daran, dass die Ukraine die Bühne der Weltpolitik in diesem Jahr fast im Alleingang bespielen kann. Die USA sind zwar am WEF, doch die ranghöchste Vertreterin ist Handelsministerin Gina Raimondo. China hat nur seinen Klimabeauftragten geschickt. Russland? Nicht eingeladen.

Russland ist der grosse Abwesende: Das «Russian House» heisst jetzt «Russian Warcrimes House» und beherbergt eine Ausstellung über die russischen Kriegsverbrechen in der Ukraine. Auf einer Karte mit dem Hinweis «unvollständig» ist eingezeichnet, wo die Verbrechen stattgefunden haben. Butscha ist nur einer der Orte.

Das «Russian Warcrimes House» hat sich zu einer Pilgerstätte des WEF gemausert. Die Menschen drängen sich davor, Kamerateams aus aller Welt filmen die Ausstellung und tragen so die Bilder über die Gräueltaten in die Welt hinaus.

Klitschko fordert Verbot russischer Staatssender

So gross die Sympathie für die Ukraine ist: Das Land wünscht sich von der Schweiz mehr Unterstützung. Während sich Witali Klitschko hinter verschlossenen Türen mit seinen Landsleuten unterhält, beantwortet vor dem Davoser Rathaus sein Bruder Wladimir die Fragen von Journalisten.

Was bringt der WEF-Auftritt? «Es ist ganz wichtig, dass das WEF gerade jetzt stattfindet und dass wir teilnehmen können», sagt Klitschko. «Hier werden keine Entscheidungen getroffen, aber vorbereitet», sagt er. «Hier wird das gemeinsame Vorgehen, wie wir Russland isolieren können, geplant.»

Wladimir Klitschko, Unternehmer und ehemaliger Profiboxer, (links) und sein Bruder Witali Klitschko, Bürgermeister von Kiew und ebenfalls ehemaliger Profiboxer, am WEF.

An die Adresse der Schweiz hat er konkrete Forderungen. So stört ihn, dass hier immer noch das russische Staatsfernsehen zu empfangen ist. Er bedankt sich zwar ausdrücklich dafür, dass die Schweiz so viele Flüchtlinge aufgenommen hat. Aber: «Wir brauchen auch Dinge aus der Schweiz», sagt Klitschko und spielt damit auf die Panzermunition für den Gepard an, die in der Schweiz gefertigt wurde und deren Auslieferung in die Ukraine die Zustimmung der Schweiz braucht.

Am Vortag hat der deutsche Vizekanzler Robert Habeck die Schweiz dazu aufgefordert, ihre Haltung zu überdenken. Doch davon will der Bundesrat weiterhin nichts wissen. Die Schweiz habe sich zu dieser Frage bereits geäussert, sagt Cassis. Die offizielle Antwort auf ein Gesuch aus Deutschland werde davon nicht abweichen.

Cassis bereitet die Lugano-Konferenz vor

Seine Eröffnungsrede am WEF nutzt der Bundespräsident dazu, der Welt zu erklären, warum sich die Schweiz an den Sanktionen gegen Russland beteiligt und trotzdem neutral bleibt. Er prägt den Begriff der «kooperativen Neutralität». Die Schweiz habe bei ihren Entscheiden die Neutralität in einer kooperativen Art und Weise umgesetzt, erklärt Cassis später. «Der staatspolitische Zwilling der Neutralität ist die Solidarität.» 

Als Gegensatz zum Begriff der aktiven Neutralität, den die ehemalige Aussenministerin Micheline Calmy-Rey prägte, will Cassis den Begriff der kooperativen Neutralität nicht verstanden wissen. Die Schweiz sei sehr aktiv, sowohl mit humanitärer Hilfe als auch diplomatisch. «Wir sind schon dabei, zu überlegen, welche Rolle die Schweiz nach dem Krieg spielen könnte.» 

40 Länder und 18 internationale Organisationen seien zur Wiederaufbaukonferenz vom Juli im Tessin eingeladen worden, sagte Bundespräsident Ignazio Cassis in seiner Rede am WEF.

Cassis hat am WEF Konkretes vor: die Vorbereitung der Lugano-Konferenz von Anfang Juli. Am Dienstag trifft er den ukrainischen Aussenminister, um das Drehbuch der Konferenz zu besprechen. Ob Selenski tatsächlich nach Lugano reisen wird, wird bis zum letzten Moment offenbleiben. Bern bereitet sich darauf vor. Doch entschieden wird dies aus Sicherheitsgründen erst kurz vor der Konferenz. Nimmt Selenski nicht teil, wird laut Cassis der Premierminister anwesend sein.

Auf der Bühne des Open Forum sagt Witali Klitschko, er verstehe, dass es für alle, die das Grauen des Kriegs nicht mit eigenen Augen gesehen hätten, schwierig sei, Mitgefühl zu entwickeln. Er weiss in diesem Moment: Den Flüchtlingsmädchen, die er später an diesem Nachmittag treffen wird, wird er das nicht erklären müssen.

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