Sprachanalyse von 14'000 DokumentenFreiheitsliebend, wehrhaft und bedroht – wie die SVP den Mythos Schweiz schuf
Zum ersten Mal zeigen Zahlen konkret, wie die klischierte Selbstbeschreibung der Schweiz immer dominanter geworden ist. Als Meister des Fachs etabliert sich die Volkspartei.

Nie wird so viel zum Volk gesprochen wie am 1. August.
Allein die sieben Mitglieder des Bundesrats halten am Nationalfeiertag 16 Reden an 16 Orten. Bundespräsident Alain Berset spricht dreimal in der Romandie, Justizministerin Elisabeth Baume-Schneider wendet sich im Muotatal und auf dem Rütli ans Volk, und Aussenminister Ignazio Cassis reist dafür um die halbe Welt nach Singapur und Neuseeland. Dazu kommen Hunderte weiterer Reden des politischen Bodenpersonals auf den Festplätzen der Städte und Dörfer.
Man muss nicht besonders hellsichtig sein, um zu erraten, worum es in den Reden gehen wird: um die Willensnation Schweiz, ihr politisches und wirtschaftliches Erfolgsmodell, ihre Wehrhaftigkeit, ihre humanitäre Tradition. Aber: Weniger selbstverständlich ist, dass diese oft klischierten Selbstbeschreibungen nicht nur am 1. August die politischen Debatten dominieren, sondern zunehmend auch an allen anderen 364 Tagen.
14’000 Dokumente ausgewertet
Dies zeigt eine detaillierte Auswertung von 14’000 politischen Dokumenten aus den letzten 40 Jahren. Dazu gehören neben Reden auch Wahl- und Parteiprogramme, Positionspapiere, Debatten in National- und Ständerat. Die Dokumente wurden in einer ersten Phase vom Institut Sotomo im Auftrag der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft und von deren Thinktank Pro Futuris aufbereitet. Anschliessend wurden sie vom Institut für Politikwissenschaft der Universität Zürich in einer Studie ausgewertet.
Andreas Müller, Programmleiter von Pro Futuris, sagt: «Zum ersten Mal können wir konkret und in Zahlen aufzeigen, wer welche nationalen Narrative wie verwendet und wie sich dies im Laufe der Zeit bei den politischen Akteuren verändert hat.» Im Gegensatz zu Forderungen nach Steuersenkungen oder dem Ausbau des Sozialstaates haben nationale Narrative immer einen Bezug zur Schweiz. Zudem zielen sie nicht nur auf konkretes politisches Handeln, sondern auch auf ein politisches Bauchgefühl.
Darauf zielte etwa SP-Co-Präsidentin Mattea Meyer, als sie am letzten SP-Parteitag sagte: «Wir sind die Partei der Hoffnung und der Veränderung.» Oder SVP-Präsident Marco Chiesa, der an einer 1.-August-Feier die Unabhängigkeit der Schweiz beschwor: «Ein Land, das sicher sein will, muss sich auf seine eigenen Kräfte verlassen können.»
Gemeinschaft schaffen und spalten
Dass Narrative keine politischen Handlungsanleitungen sind, macht sie aber nicht weniger wichtig. Im Gegenteil: «Die dominanten nationalen Narrative sind tief im Verständnis der Gesellschaft verankert», sagt Programmleiter Müller. Als nationale Mythen sind sie identitätsstiftend und gemeinschaftsbildend. Sie können komplexe Zusammenhänge in leicht verständliche Geschichten verpacken.
Narrative können Gesellschaften aber auch spalten. Etwa wenn Marco Chiesa Gesundheitsminister Alain Berset in der Corona-Zeit einen Diktator nannte und Bersets modische Kopfbedeckung als «Gesslerhut» bezeichnete.

Die Auswertung von Pro Futuris zeigt, dass vor allem die rechten Parteien seit 1980 zunehmend nationale Narrative verwenden. Bei den linken Parteien nahm die Verwendung bis 2000 stark ab. Die Parteien in der politischen Mitte, inklusive FDP, halten sich bei der Verwendung von Narrativen konsequent zurück.
Das Narrativ «Die Schweiz ist ein freiheitsliebendes, wehrhaftes Land, das von innen und aussen bedroht wird», hat dementsprechend besonders an Bedeutung gewonnen. Dieses Narrativ hat in der Zeit nach 1991 vor allem bei den rechten Parteien stetig an Bedeutung gewonnen.
Es ging damals um den Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR). Im Dezember 1992 fand dazu die erste grosse europapolitische Volksabstimmung statt. Das Volk sagte überraschend Nein. «Das war der Wechsel von der Ogi-SVP zur Blocher-SVP», sagt Pro-Futuris-Programmleiter Müller.
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«Die Partei hat sich klar EU-kritisch positioniert, und das zeigt sich überraschend deutlich auch in der Entwicklung der politischen Narrative. Die Studie zeigt zudem, dass gerade im Bereich der Aussenpolitik nationale Narrative besonders häufig sind.»
Wehrhafte Schweiz versus Zuwanderung
Zwar gehörte die «wehrhafte Schweiz» nach dem Zweiten Weltkrieg stets zum Grundbestand der Narrative. Der SVP ist es gemäss der Studie aber gelungen, dieses Narrativ neu zu besetzen und zu kultivieren. Dies gelang unter anderem durch die Verknüpfung mit der Migrationsfrage.
Als Gegenstück zur «wehrhaften Schweiz» war bis 2005 ein anderes Narrativ am weitesten verbreitet: «Die Schweiz ist ein Land mit einer starken humanitären Tradition, in dem für alle gesorgt wird». Seither wurde dieses primär von Links-Grün verwendete Narrativ von der «wehrhaften Schweiz» der rechten Parteien überholt.
Für Andreas Müller ist dies ein weiterer Beleg dafür, dass die SVP die Kommunikation über Narrative beherrscht. «Die Parteien der Mitte und der Linken haben darauf noch keine Antwort gefunden», sagt Müller. «Sie holen zwar auf, wobei sie in den letzten 20 Jahren vermehrt auf das Narrativ des wirtschaftlichen Wohlstands setzen. Für den politischen Erfolg ist es aber zentral, nicht nur auf der Sachebene, sondern auch auf der Erzählebene erfolgreich zu sein.»
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