Monstervorlage zur EnergiewendeWie der Bundesrat die Stromversorgung umbauen will
Die Schweiz soll bis 2050 klimaneutral werden und erneuerbar Strom produzieren. Eine Herkulesaufgabe. Der Umbau und die Baustellen.
Der Bundesrat will die Energiewende vorantreiben. Er setze damit den Weg fort, den das Schweizer Stimmvolk 2017 mit seiner Zustimmung zur Energiestrategie 2050 vorgezeichnet habe, sagte Umweltministerin Simonetta Sommaruga am Freitag vor den Medien. Auch nach dem Volks-Nein zum CO2-Gesetz gehe der Umbau in eine klimaneutrale Energieversorgung weiter. Das Massnahmenpaket, das der Bundesrat verabschiedet hat, ist umfangreich. Wir zeigen die wichtigsten Baustellen:
Ausbau Erneuerbare Energie: «Gewagtes Szenario»
Solar- und Windenergie sollen bis 2035 neben der Wasserkraft 17 Terawattstunden Strom liefern. Damit hat der Bundesrat in seiner nun präsentierten Botschaft zur Reform des Stromversorgungs- und Energiegesetzes den Zielwert um gut 6 Terawattstunden gehoben. Bis zum Jahr 2050 sollen es dann 39 Terawattstunden sein. Heute produzieren die neuen Erneuerbaren etwa 3 Terawattstunden, wobei der Löwenanteil von der Sonne stammt. Um die neuen Zielwerte zu erreichen, müsste die Jahresproduktion um den Faktor 5 gesteigert werden.
Für die Schweizerische Energiestiftung (SES) geht das zu wenig weit. «Um die wegfallenden Atomkraftwerke zu ersetzen und den zusätzlichen Strombedarf durch die Elektrifizierung der Energieversorgung sicherzustellen, wären rund 35 bis 45 TWh bis 2035 notwendig», schreibt die SES in ihrem diese Woche veröffentlichten Bericht.
Das Bundesamt für Energie (BFE) rechnet in seinen Energieperspektiven 2050+ anders: Wenn in 15 Jahren die letzten Kernkraftwerke vom Netz gehen, soll als Überbrückung rund ein Fünftel der Stromnachfrage mit Importstrom gedeckt werden, der dann mit dem weiteren Ausbau der Erneuerbaren sukzessive abnehmen soll. Für Gianni Operto, Präsident von AEE Suisse, der Dachorganisation der Wirtschaft für erneuerbare Energien und Energieeffizienz, ist das ein gewagtes Szenario. Für ihn sind die Energieperspektiven bereits veraltet: «Unsere Nachbarländer, namentlich Deutschland, Frankreich und Spanien, sind dann vermutlich nicht in der Lage, Strom abzugeben.» Der Grund: Deutschland steigt im nächsten Jahr aus der Kernkraft aus, und das Stromangebot vor allem aus Kohlekraftwerken wird nach 2035 immer geringer, wenn das Pariser Klimaabkommen eingehalten wird. «Das Scheitern des Rahmenabkommens und damit auch des Stromabkommens wurde in den Szenarien der Perspektiven nicht berücksichtigt», sagt der Energieexperte.
Anreize für Stromprojekte: Zu einseitige Strategie?
Der Bundesrat will die Erneuerbaren in Zukunft ausschliesslich mit Investitionsbeiträgen fördern. Die bisherigen Förderinstrumente für die erneuerbare Stromproduktion werden neu bis 2035 verlängert. Fotovoltaikanlagen sollen über wettbewerbliche Ausschreibungen gefördert werden, bei denen die günstigste Stromproduktion den Förderzuschlag bekommt.
Eine Vergütung für die Einspeisung von Solar-, Wind- oder Biogasstrom ins Netz wird es ab 2022 allerdings nicht mehr geben. Damit es keine Förderlücke gibt, bis die Reform des Stromversorgungs- und Energiegesetzes in Kraft ist, hat der Nationalrat diese Woche – gegen den Willen des Bundesrats – eine parlamentarische Initiative des Grünen Bastien Girod angenommen, die ab 2023 einheitlich bis 2030 neue Windenergie-, Kleinwasserkraft-, Biogas-, Geothermie- und Fotovoltaikanlagen fördern soll. Die Beiträge sollen bis zu 60 Prozent der Investitionen decken. Die Vorlage kommt nun in den Ständerat.
«Die Strategie in der Schweiz muss sein, einen Selbstversorgungsgrad im Jahresmittel von mindestens 90 Prozent anzupeilen.»
Doch auch wenn der grösste Teil des Zubaus auf Kleinanlagen fällt, die Energiewende ist ohne Grossanlagen nicht zu schaffen. «Die Strategie in der Schweiz muss sein, einen Selbstversorgungsgrad im Jahresmittel von mindestens 90 Prozent anzupeilen», sagt AEE-Präsident Gianni Operto. Dazu müssten in der Schweiz Grossprojekte möglich werden. Zum Beispiel Fotovoltaik in Parkplatzüberdachungen oder Lärmschutzwänden. Geeignet wären auch Grossanlagen in den Alpen – rund um Skigebiete, wo die Infrastruktur bereits vorhanden ist.
Die bisherige Finanzierungspolitik in der Schweiz hat dazu geführt, dass Schweizer Energieversorgungsunternehmen bisher fast ausschliesslich im Ausland investierten. Anreize allein durch Investitionsbeiträge, wie das der Bundesrat vorsieht, hält Solarsuisse-Geschäftsleiter David Stickelberger für nicht optimal. «Zahlungen pro produzierte Kilowattstunden Strom wären für die meisten Investoren die bessere Lösung – am besten in Abhängigkeit vom Marktpreis.» Vor allem bei inländischen Projekten von Grossanlagen sieht er Nachteile. «Die grosse Unsicherheit ist, wie sich die Strompreise in Europa entwickeln.» Es sei davon auszugehen, dass der Preis auf dem Strommarkt immer länger nahe bei null sein werde, so Stickelberger. Investoren von grossen Anlagen brauchten deshalb zusätzliche Investitionsanreize.
Eine Allianz der Schweizer Energiewirtschaft, bestehend aus grossen Energieversorgungsunternehmen, den Stadtwerken und zentralen Verbänden, verlangen deshalb ein neues Finanzierungsmodell. Sie setzen dabei vor allem auf gleitende Marktprämien. Dabei sollen Betreiber von Grossanlagen pro produzierte Kilowattstunde Strom über eine gewisse Laufzeit eine minimale Vergütung erhalten, falls der Marktpreis die Produktionskosten nicht deckt.
Winterstrom: Vorgeschriebene Reserven
Der vorprogrammierte «Blackout» im Winter, sobald alle Kernkraftwerke vom Netz sind, ist ein Dauerthema in der Politik und in der Öffentlichkeit. Die Schweiz verbraucht derzeit etwa 55 Prozent der jährlichen Stromproduktion in der kalten Jahreszeit. Die Elektrizitätskommission (Elcom), die Hüterin über die Schweizer Stromversorgung, forderte, die Schweiz solle bis 2035 ihre Stromproduktion für das Winterhalbjahr um mindestens fünf, besser um bis zehn Terawattstunden verbindlich ausbauen. Das entspricht etwa 40 bis 80 Prozent der Strommenge, die im Winter wegfallen wird, wenn die Schweiz aus der Kernkraft aussteigt.
Der Bundesrat sieht nun in seinem Massnahmenpaket zusätzlich zum angestrebten Zubau der erneuerbaren Stromproduktion noch eine Reserve von 2 TWh vor, die im Winter sicher abrufbar sein muss. Im Visier sind prioritär grosse Speicherkraftwerke, die für ihre Reserve einen «Winterzuschlag» erhalten sollen. Dafür sollen bei den Stromkonsumenten maximal 0,2 Rappen pro Kilowattstunde erhoben werden. Zudem will der Bundesrat eine strategische Energiereserve etablieren, um Ende des Winters, wenn die Wasserkapazität der Stauseen normalerweise tief ist, genügend Energie verfügbar ist.
Das grösste Ausbaupotenzial hätte eigentlich die Windkraft im Winter. Die Vereinigung zur Förderung der Windenergie ist überzeugt, dass Windenergie 20 Prozent der Winterversorgung decken könnte. Aber solange die Bewilligungsverfahren im Durchschnitt mehr als 15 Jahre dauern, ist hier wohl kein Fortschritt zu erwarten. Unterschätzt werde auch das Solarpotenzial im Winter, sagt AEE-Präsident Gianni Operto. Die Solarmodule würden längst nicht mehr nur so ausgerichtet, um einen maximalen Ertrag zu erhalten. Immer mehr gehe es um die optimale Stromgewinnung über das ganze Jahr.
Strommarkt: Für alle öffnen
Neu sollen Haushalte und kleinere Betriebe, die heute an ihren regionalen Versorger mit regulierten Tarifen gebunden sind, ihren Stromlieferanten frei wählen dürfen. Firmen mit grossem Strombedarf steht diese Option seit 2009 offen. Wer will, kann weiterhin in der Grundversorgung bleiben. Dort sollen die Elektrizitätswerke in Zukunft standardmässig Schweizer Strom aus erneuerbaren Energien liefern. Diese Auflage ist Teil des bundesrätlichen Versuchs, die Liberalisierung mehrheitsfähig zu machen.
Linke Kreise befürchten, dass die Öffnung einen Preisdruck bewirken und sich so nicht oder wenig ökologisch produzierter Strom durchsetzen wird. Sie erwarten zudem eine Schwächung des Service public im Bereich der Stromversorgung. Die Befürworter, zu denen die bürgerlichen Parteien zählen, erhoffen sich dagegen mehr Wettbewerb, Effizienz und Innovation im Strommarkt. Sie wollen allen Stromkonsumenten Wahlfreiheit gewähren. Die Stromwirtschaft ist gespalten. Ein Argument für die Liberalisierung ist bis auf weiteres vom Tisch: Die vollständige Liberalisierung wäre eine Voraussetzung gewesen für das Stromabkommen – doch dieses kommt nun nicht zustande, weil der Bundesrat das institutionelle Rahmenabkommen beerdigt hat. Offen ist, ob die geplante Liberalisierung Anlass genug für ein Referendum ist. Vor 20 Jahren war dies der Fall. 2002 hatten die Gewerkschaften den ersten Versuch zur Strommarktöffnung an der Urne bekämpft – erfolgreich. Sommaruga sagte am Freitag, die Liberalisierung werde heute unter ganz anderen Vorzeichen diskutiert, stärke diese doch die dezentrale erneuerbare Stromproduktion.
Gaskraftwerke: Weiterhin möglich
Der Bundesrat will die Wasserkraft bis 2040 um 2 Terawattstunden ausbauen. Sollte sich spätestens 2030 abzeichnen, dass dieses Ziel verfehlt wird, sollen Alternativen geprüft werden, technologieoffen. «Hier könnten auch Gaskombikraftwerke zum Zuge kommen», heisst es in der Botschaft des Bundesrats. Allerdings nur, solange sie klimaneutral betrieben werden. Auch die Kernkraft spielt bis auf weiteres eine wichtige Rolle – etwa mit Blick auf den Bedarf an Stromimporten im Winter. Gehen die Meiler 2035 vom Netz, sei die Herausforderung grösser, als wenn dies später der Fall sei, sagte Benoît Revaz, Direktor des Bundesamts für Energie. Die Meiler dürfen in der Schweiz so lange weiterlaufen, wie sie die Atomaufsicht als sicher einstuft.
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