Neue Schweizer LiteraturWie aus vielen Nüssen ein Nussbaum wächst
Ein neuer Band im Camenisch-Sound: Margrit und Rosa-Maria betreiben einen Kiosk in Tavanasa und blicken auf fünfzig «Goldene Jahre» zurück. Dabei wird deutlich: Arno Camenisch schreibt an einer «comédie grisonne».
Die Schule wird geschlossen («Herr Anselm»), die Skisaison ist tot («Der letzte Schnee»): Arno Camenischs Figuren sind Gestrige. Ihre Tätigkeit war kein Geschäftsmodell, sondern Lebenssinn. Der Gegenwart steht der Sinn nach anderem. Und so ergeht es auch «der Margrit» und «der Rosa-Maria» im neuen Buch, das nostalgisch-verklärend «Goldene Jahre» heisst.
Die Margrit und die Rosa-Maria betreiben einen Kiosk im bündnerischen Tavanasa, jenem Dorf, in dem sich die Sonne im Winter monatelang nicht zeigt und in dem Arno Camenisch aufgewachsen ist. Und wo er an einem Kiosk sein Sackgeld für Süssigkeiten gelassen hat. Der Kiosk der «Goldenen Jahre» besteht fünfzig Jahre, bemerkt die eine, nein, schon einundfünfzig, korrigiert die andere ein ums andere Mal. Denn geöffnet hat er am Tag der Mondlandung. Und geöffnet hat er immer noch, Tag für Tag, auch wenn es keine Kunden gibt. Über die Dauer jenes Vormittags, von dem Arno Camenisch auf 100 Seiten erzählt (das ist, ziemlich exakt, immer seine Strecke), schaut jedenfalls niemand vorbei.
Die Autos fahren aussen herum, seit es die Umgehungsstrasse gibt. Die Jugend ist auf andere Leckerli umgestiegen, und auch der Pfarrer holt nicht mehr sein Sexheftli ab, von den beiden Damen diskret in den «Blick» eingewickelt.
Als Eddy Merckx gerade hier vom Rad fiel
Der Kiosk war mal Avantgarde, «revolutionär», schwärmt die Margrit (oder die Rosa-Maria, denn in den eingespielten Dialogen kann jede den Part der anderen übernehmen). Es war der erste mit angeschlossener Tankstelle. Jetzt ist er quasi ein Museum, die Leuchtreklame ein halbes Jahrhundert alt, die Zapfsäule analog (der tägliche Benzinpreis wird mit Kreide angeschrieben), das Radio mit der kaputten Antenne kaum zu verstehen.
Die Gegenwart ist nutzlose Routine. Bleibt die Vergangenheit. Margrit und Rosa-Maria rufen einander die besonderen Momente des Kiosks herauf: Als der Giro hier vorbeiführte, Eddy Merckx gerade hier vom Rad stürzte und einen Tee mit Zitronenschnitzen trank. Der grosse Schnee. Tschernobyl. Die grosse Überschwemmung. Prominente Kunden: Ornella Muti, der Bundesrat.
«Eine Epoche haben wir geprägt», glauben sie, in klassischem Kurzschluss aller camenischschen Figuren vom Mikro- auf den Makrokosmos. Margrit und Rosa-Maria wissen, wie das Leben ist – sie kennen es aus den «Heftli» und den Schicksalen, die ihnen von ihren Kunden zugetragen wurden: Liebesglück und -leid, Lotteriegewinne und Katastrophen. Daraus bauen sie ihre eigene Lebensphilosophie, die sie in Formeln giessen wie «Die Verliebtheit dauert acht Wochen» oder «Das Unglück ist ein Meister des Timings».
Im Li-li-Land
Ja, «Goldene Jahre» ist ein typischer Camenisch, er hat seine Form, die er mit dem ersten Roman gefunden hat, den sich bestätigenden, den Rückblick wehmütig ausmalenden Wechselgesang ebenso perfektioniert wie den Sound, diesen zwischen «sodeli» und aufgeschnappten Fremdwörtern balancierenden Camenisch-Ton. Die Welt in der Nussschale: Das ist ein Rezept, das ihm auch hier gelingt.
Mag das Kiosk-Pärchen in diesem Buch etwas gar zu rosig geraten sein, mag es einem auch mal zu viel werden mit all den «lieben Kerli» im Li-li-Land: Tritt man einen Schritt zurück, dann fügen sich die mittlerweile elf Kurzromane Arno Camenischs zu einem bündnerischen Epos vergehender Zeit, einer «comédie grisonne». Mit kleinen Zwischenverweisen, auf frühere Bücher und Figuren, sogar auf sich selbst, den «Dorfpoeten», weist der Autor diskret darauf hin. Die Buchrücken der schmalen Engeler-Bände, nebeneinandergestellt, schillern in leuchtenden Farben, und der vermeintliche Mann der Kurzstrecke erweist sich als Autor mit langem Atem. So wächst, biologisch geht das nicht, aber literarisch: aus vielen Nüssen ein ganzer, grosser, tausendseitiger Nussbaum.
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