Von der Kultur zur RevolutionWeshalb Maria Kolesnikowa Weissrussland mobilisiert
Zur Spitze der Opposition gehört die in Stuttgart ausgebildete Musikerin Kolesnikowa. Erst vor einigen Monaten entschied sie sich, das beschauliche Leben in Deutschland hinter sich zu lassen – und den Kampf gegen den als «Europas letzten Diktator» aufzunehmen.
Die Musikerin Maria Kolesnikowa hätte sich nach zwölf Jahren Leben für die Kunst in Stuttgart noch vor kurzem nicht träumen lassen, dass sie sich im Gefängnis wiederfindet. «Meine politische Arbeit hat sich so ergeben», sagte die 38-Jährige unlängst der Nachrichtenagentur dpa in Minsk. Nach ihrem Studium in Stuttgart und ihrer Arbeit als Kulturmanagerin entschied sie sich erst vor einigen Monaten, das beschauliche Leben in Deutschland hinter sich zu lassen – und den Kampf gegen den als «Europas letzten Diktator» verschrienen Alexander Lukaschenko aufzunehmen.
Deshalb sitzt Kolesnikowa, eine Flötistin und Expertin für experimentelle Neue Musik, nun wegen des Versuchs der illegalen Machtergreifung in Minsk in Untersuchungshaft. Ihr drohen viele Jahre Gefängnis. Die deutsche Kulturszene ist in Aufruhr und Sorge – und hat sich jetzt an die deutsche Kanzlerin Angela Merkel gewandt. Merkel solle sich als EU-Ratsvorsitzende für die sofortige Freilassung Kolesnikowas einsetzen, heisst es in einem offenen Brief an das Kanzleramt.
Von der Kulturmanagerin…
Dutzende Kulturschaffende, aber auch einige Politiker gehören zu den Unterzeichnern. «Maria ist ein Mensch mit gesellschaftlicher Verantwortung. Sie hat als Künstlerin immer Menschen erreichen, etwas bewegen wollen», sagt Christine Fischer, Intendantin von Musik der Jahrhunderte in Stuttgart und künstlerische Leiterin des Festivals ECLAT für Neue Musik. Die beiden Frauen kennen sich seit drei Jahren.
Von Stuttgart aus managte Kolesnikowa Kulturprojekte, arbeitete teils beim Aufbau eines Kulturzentrums in Weissrussland, teils in Deutschland für das Festival. Über ihre Kulturarbeit lernte sie Viktor Babariko kennen, der als Chef einer russischen Bank künstlerische Projekte förderte. «Die Werte, die Linie, die er vertritt, sind mir sehr nah. Er hat sich stark für die Entwicklung der weissrussischen Kultur und für die moderne Kunst eingesetzt. Und er ist demokratisch und offen», sagte Kolesnikowa bei einem Treffen in Minsk vor ihrer Inhaftierung.
…zur Wahlkampfmanagerin
Dann sei eins zum anderen gekommen. Babariko habe die Bank verlassen, sich für den Wechsel in die Politik und den Kampf gegen den seit 26 Jahren mit harter Hand regierenden Lukaschenko entschieden. «Ich habe ihm ohne zu zögern meine Unterstützung angeboten. Aber natürlich nicht gedacht, dass ich mich in dieser Rolle wiederfinde», erzählte sie. Ihre Rolle war zuerst Wahlkampfmanagerin.
Als Lukaschenko dann Babariko verhaften liess, unterstützte sie die zur Präsidentenwahl am 9. August zugelassene Seiteneinsteigerin Swetlana Tichanowskaja, die sich als Siegerin der Abstimmung sieht. Doch nach Tichanowskajas Flucht ins EU-Exil nach Litauen wuchs Kolesnikowas politische Rolle weiter.
Schon immer hat sie sich für die Funktionsweise sozialer Netzwerke interessiert, kennt sich mit Algorithmen im Internet aus und weiss aus ihrer Zeit als Kulturmanagerin, wie Reichweiten zu erzielen sind. Die zudem als Rednerin ausgebildete Künstlerin erklärte schliesslich, selbst die Führung der Opposition übernehmen zu wollen. Sie kündigte die Gründung der neuen Partei Wmeste – zu Deutsch: Miteinander – an. Sie selbst sagte bei den Treffen in Minsk, dass ihr zwar der Rosenbalkon in Stuttgart fehle, aber der grosse Aufbruch jetzt ihre Sache sei.
Nur noch Alexijewitsch auf freiem Fuss
Gemeinsam mit der Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch arbeitete sie im siebenköpfigen Präsidium eines Koordinierungsrates der Zivilgesellschaft für einen friedlichen Machttransfer. Nachdem Lukaschenko das Gremium für illegal erklären liess, ist Alexijewitsch nun die einzige, die noch in Minsk in Freiheit ist. Die 72-Jährige zeigte sich erst am Mittwoch besorgt, Lukaschenko könne auch sie einsperren lassen. «Erst haben sie uns das Land gestohlen, jetzt greifen sie die Besten von uns auf», sagte Alexijewitsch. Aber es kämen Hunderte andere an ihrer Stelle. Das Land bäume sich auf.
Kolesnikowa und Alexijewitsch kennen sich gut und sind die prägenden Stimmen der Revolution in der Ex-Sowjetrepublik, wo der Geheimdienst noch wie zu kommunistischen Zeiten KGB heisst und jeden Andersdenkenden verfolgt. In Stuttgart hatte Kolesnikowa zuletzt mit der Oper bei der Produktion BORIS Kontakt, in der sechs Schicksale aus Alexijewitschs Buch «Secondhand-Zeit» vertont wurden.
«Grosse Sorge um Maria»
Opernintendant Viktor Schoner und Stuttgarts Oberbürgermeister Fritz Kuhn gehören zu den Unterzeichnern des Briefs an die Kanzlerin. Er sei in «grosser Sorge» um Kolesnikowa, die als Bürgerin in Stuttgart sozial engagiert gewesen sei und grossen Respekt geniesse, schrieb Kuhn an den weissrussischen Botschafter in Berlin.
«Wir verfolgen die Nachrichten hier mit angehaltenem Atem und Bewunderung dafür, wie Maria sich entwickelt hat, wie sie es versteht, mit ihrer Energie und positiven Ausstrahlung solche Massen zu mobilisieren, und einfach einen Instinkt für starke Momente und Bilder hat», sagt ihre Wegbegleiterin Fischer in Stuttgart. Auch die herausragende Rolle der Frauen bei den Protesten passe zu Kolesnikowas Linie. «Frauen sollten schon in ihren Kulturprojekten immer eine grosse Rolle spielen; es ging um Unterdrückung – bis hin zur Vergewaltigung – und immer darum, Frauen zu ermutigen, ihr Schicksal in die eigene Hand zu nehmen.»
Fischer glaubt nicht, dass Kolesnikowa, die auch als Musikpädagogin gefragt war, von Anfang an den Wunsch hatte, in die Politik zu gehen. «Aber es ist grossartig zu sehen, wie sie Verantwortung übernimmt.» Die Haft mache ihr Sorgen, Kolesnikowa sei aber eine starke Frau. «Ich glaube nicht, dass Lukaschenko sie brechen kann.»
Kolesnikowa stellt Strafanzeige wegen Morddrohung
Unterdessen hat Kolesnikowa nach ihrer Entführung Strafanzeige gegen die Behörden wegen Morddrohung gestellt. Das teilte die 38-Jährige in einer am Donnerstag veröffentlichten Stellungnahme mit.
Die Anzeige, die auch die Vorwürfe der Entführung sowie der Androhung einer Freiheitsstrafe von 25 Jahren beinhaltet, richtet sich gegen den Geheimdienst KGB und gegen die Sonderpolizei zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität. Die Politikerin war am Montag entführt worden und sitzt nun in Untersuchungshaft in Minsk.
Nach Angaben ihres Stabs in Minsk nennt Kolesnikowa die Namen der Beamten, die sie bedroht und ihr einen Sack über den Kopf gezogen hätten. Und sie betonte, dass sie die Männer bei einer Gegenüberstellung identifizieren könne. Kolesnikowa war demnach aufgefordert worden, das Land zu verlassen. Sie sollte in das Nachbarland Ukraine abgeschoben werden. Die Sicherheitskräfte hätten ihr gesagt: entweder «lebendig oder zerstückelt», schrieb sie nun.
Quetschungen nach gewaltsamer Aktion
Kurz vor dem Grenzübergang zerriss sie aber ihren Pass und vereitelte so ihre Abschiebung. Sie habe Quetschungen von der gewaltsamen Aktion davongetragen, teilte ihre Anwältin Ljudmila Kasak am Mittwochabend nach einem Treffen mit ihr mit. Kolesnikowa, die viele Jahre in Stuttgart in der Kulturszene aktiv gewesen war, sieht sich mit dem Vorwurf der versuchten Machtergreifung konfrontiert. Ihre Anwältin Kasak bezeichnete die Vorwürfe als «absurden» Versuch, Andersdenkende mundtot zu machen.
«Maria fühlt sich gut und wacker trotz des erlebten Stresses in den vergangenen zwei Tagen», sagte Kasak. Bei Kundgebungen für eine Freilassung Kolesnikowas am Mittwoch in Minsk kam es zu zahlreichen Festnahmen. Das Innenministerium in Minsk sprach am Donnerstag von 40 Festnahmen. Die Sorge um die Politikerin ist gross. Weissrussland vollstreckt als einziges Land in Europa noch die Todesstrafe – durch Genickschuss.
DPA
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