Analyse zur Lensa-AppWer will schon aussehen wie ein kitschiges Abziehbild von sich selbst?
Die Bilder-App Lensa wird wegen Sexismus und Stereotypisierung kritisiert. Dabei ist die App perfekt, uns mit der Tatsache zu versöhnen, dass wir keine Superhelden sind.
Die Lensa-App sorgt für Empörung: «Die App hat mich ausgezogen – ohne meine Zustimmung», kritisiert Melissa Heikkilä. Die Autorin des Wissenschaftsmagazins «MIT Technology Review» hat die App getestet und wurde als sexy Elfe und im Badeanzug visualisiert. Unter den rund hundert «Magical Avatars», die die App für sie erzeugt hat, befanden sich auch Nacktbilder. Und Heikkilä stellt fest, dass es auch eine Benachteiligung nach Ethnie gibt, weil bei ihr als asiatischer Frau noch mehr sexualisierte Resultate angezeigt werden.
Noch deftiger fällt der Vorwurf der Übergriffigkeit bei der Autorin des Magazins «Wired» aus. Olivia Snow hat bei ihrem Experiment Fotos aus ihrer Kindheit hochgeladen, aus denen dann auch sexuell konnotierte Motive entstanden. Allerdings warnt die App explizit davor, Fotos von Kindern, aber auch von Tieren hochzuladen – da die App dieses potenziell problematische Ausgangsmaterial nicht von sich aus erkennt, sind KI-Monstrositäten vorprogrammiert. Denn die erste Lektion, die uns die App erteilt, ist, dass Algorithmen keine Ahnung von menschlichen Sensibilitäten haben, sondern das Material, mit dem sie gefüttert wurden, brutal und taktlos spiegeln – mit dem ganzen Sexismus und Rassismus, den es im Netz zu finden gibt.
Jünger, attraktiver und ohne Seele
Darum gehört das Spiel mit dem Feuer bei der Lensa-App mit dazu: Sie simuliert den Sprung in ein Wurmloch, bei dem wir nicht wissen, in welchem Fantasy-Universum wir landen werden – und bei dem böse Überraschungen keinesfalls ausgeschlossen sind. Die App verlangt nach zehn bis zwanzig Selfies, aus denen sie je nach Modus fünfzig bis hundert «magische Avatare» erzeugt. Das sind Kunstfiguren, die in wechselnden Fantasy-Szenarien erscheinen und eine überraschende Ähnlichkeit mit dem eigenen Selbst haben.
Bei meinem eigenen Test werde ich als Astronaut, Cyborg, Bogenschütze und Anime-Held dargestellt. Nacktbilder oder sexualisierte Posen sind nicht dabei, aber die App macht mich jünger und attraktiver, als ich bin: Meinen Glatzkopf kaschiert sie nicht in jedem Fall, aber es gibt auch einige Bildvarianten, in der ich ein virtuelles Toupet aufgesetzt bekomme.
Ist das lustig? Ist das peinlich? Löst das Selbstzweifel und den Wunsch aus, diesem Idealbild näherzukommen? Es ist auf alle Fälle ein spannendes Spiel mit der eigenen Identität – das auch etwas Gruselig-Seelenloses hat: Es fühlt sich ein bisschen so an, als wäre man eines Morgens im Körper einer Barbie-Puppe erwacht.
Wenn ich mir meine «magischen Avatare» ansehe, dann finde ich sie lächerlich und bedauernswert zugleich: Diese wichtigtuerische Entschlossenheit! Diese affektierten Posen! Dieser sichtbare, völlige Mangel an Lebenserfahrung! Ich war noch nie so zufrieden damit, kein Superheld zu sein, wie nach der Begegnung mit meinem Super-Alter-Ego.
Alles ausser authentisch
Ich glaube darum auch nicht, dass sich Künstler vor dieser Konkurrenz fürchten müssen, wie es die NZZ vermutet. Die zweite Lektion, die uns die Lensa-App erteilt, ist der Wert der Authentizität: Je mehr solche Figuren digital beliebig reproduzierbar werden, desto weniger wollen wir als Stereotyp erscheinen, das über Millionen von Bildern als Durchschnitt gemittelt worden ist. Nein, wir wollen unsere Einzigartigkeit hervorkehren – und die ins beste Licht zu rücken, das schafft nur ein Mensch.
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