Grüne Architektur«Wer einen Baum pflanzt, ist ein Visionär»
Ferdinand Ludwig entwirft Bauwerke der Zukunft, in denen Weiden und Platanen mit Stahl und Beton verschmelzen. Der Münchner Professor über grüne Häuser und Städte, die der Erderwärmung trotzen.

Herr Ludwig, leben Sie in einem Haus aus Bäumen?
Nein, ich wohne ganz klassisch, in einer Stadtwohnung in München. Natürlich träume ich davon, in einem lebenden Haus zu wohnen. Aber derzeit ist es nicht Realität.
Als Architekt verschmelzen Sie Bäume und Pflanzen mit Beton und Stahl – Sie nennen es «Baubotanik». Wozu soll dies gut sein?
Ich lasse Bäume mit Technik und Baukörpern verwachsen, weil Bäume einzigartige ökologische Leistungen erbringen können. Ich spreche von Funktionen wie Kühlung, Beschattung oder Luftreinigung. Und Bäume sind Lebensraum einer Vielzahl von Lebewesen. Wenn wir Bäume zu natürlichen Bauteilen machen, dann verfügen die entsprechenden Bauwerke nicht nur über die Ästhetik von Bäumen, sondern auch über deren Eigenschaften. Meine Vision ist, dass Städte eigentlich zu Wäldern werden. Dass wir Häuser haben, die als Bäume funktionieren und viele dieser Häuser zusammen einen urbanen Wald bilden.

Weshalb ist das wichtig?
Grüne Architektur wie die Baubotanik vermag den Klimawandel zwar nicht aufzuhalten. Aber was diese Bauweise leistet: Wir können uns an das veränderte Klima – an Hitze und Trockenheit, die besonders in Innenstädten zu einem immer grösseren Problem werden – anpassen. Wir brauchen mehr Schatten und Kühlung. Wir brauchen in den Metropolen mehr Lebensraum für Vögel oder Insekten. Ein Baum ist eine mikroklimatische Hochleistungsmaschine. Und je mehr Bäume wir in die Stadt bringen, desto gesünder wird das Klima für den Menschen. Bäume beugen der Überhitzung vor. Sie schützen damit Leib und Leben.
Was genau meinen Sie damit?
In Europa ist die Hitze der für den Menschen tödlichste Umwelteinfluss. Wegen Hitzewellen sterben mehr Menschen als bei Erdbeben oder durch Unwetterkatastrophen. Vor allem Alte, Kinder und Kranke sind durch Hitzestress gefährdet. Ihnen nützt eine neue, grüne Baukultur am meisten.

Bauen Sie nicht Luftschlösser? Es dauert Jahrzehnte, bis Bäume eine respektable Grösse erreichen und baubotanische Bauten stehen.
Wenn Sie Bäume pflanzen, dann sind Sie immer visionär. Sie planen stets auch für kommende Generationen. Es trifft zu, ein Baum erfüllt seine Leistung erst nach 50 oder 60 Jahren zur Gänze. Und der Baum wird älter als der Mensch, der ihn pflanzt.
Die Umweltprobleme stellen sich heute, nicht erst morgen.
Selbstverständlich. Auf diese Herausforderung gibt es mehrere Antworten. Zum einen verwirklichen wir auch kleinere Projekte, in denen Bäume eine tragende Funktion übernehmen – baubotanische Pavillons etwa oder Stege. Diese Bauten lassen sich vergleichsweise schnell realisieren. Zum anderen: Wenn es primär um die klimatische Wirkung der Bäume geht, dann muten wir ihnen bei der Integration ins Bauwerk keine tragende Funktion zu, diese kann die Technik übernehmen. Zudem gibt es viele Baumschulen in Europa, die Bäume von 8 oder gar 10 Meter Höhe bereitstellen, das entspricht rund drei Stockwerken. Und zuletzt gibt es noch das Prinzip der Pflanzenaddition.
Die Pflanzenaddition?
Pflanzenaddition ist eine Technik, bei der wir nicht einen Baum in den Boden pflanzen und warten, bis er gross ist. Stattdessen bauen wir aus vielen jungen Bäumen eine grosse Struktur, indem wir nur wenige davon in den Boden pflanzen und die anderen in Pflanzgefässen im Luftraum anordnen – vertikal über- und nebeneinander auf Gerüsten. Diese werden dann so miteinander verbunden, dass sie zu einem grossen neuen Gesamtorganismus zusammenwachsen. Dadurch erreichen wir von Beginn weg die Dimension eines ausgewachsenen Baumes.

Wie soll ein Gebäude überhaupt planbar sein, wenn seine Bauteile stets weiterwachsen, sich verändern?
Ein Baum wächst in der Länge nur an der Triebspitze. Das bedeutet: Wenn ich ein technisches Element auf drei Metern Höhe mit dem Stamm verbinde, dann ist diese Verbindung auch nach 50 Jahren noch auf derselben Höhe. Die Grundgeometrie eines baubotanischen Gebäudes verschiebt sich deshalb nicht. Aber es trifft schon zu: Baubotanik ist eine dynamische Architektur, eine Bauweise, die nie fertig ist, weil sie lebt. In der Arbeit mit Pflanzen kann man lernen, dass nicht alles planbar ist. Man sollte damit nicht nur zu leben lernen, sondern es als grosse Chance sehen.
Architektur bedeutet also nicht mehr rechte Winkel und Geraden und Formen, gebaut für die Ewigkeit?
Damit ist es ein Stück weit vorbei. Auch wenn die Vorstellung, dass ein Gebäude nicht mehr bis ins letzte Detail planbar ist, von vielen Architekten als Zumutung, wenn nicht als Albtraum empfunden wird. Aber was gibt es Besseres als ein Gebäude, das sich Umwelteinflüssen anpassen kann? Genau dies verlangt die Klimaveränderung.

Einerseits betonen Sie das Dynamische des Baums; andererseits durchbohren Sie ihn mit Stahlträgern und zwingen ihn in eine Form – als ob es sich um ein Gewächs in einem Barockgarten handeln würde. Das ist doch ein Widerspruch.
Zugegeben, die Baubotanik greift weitreichend in das Wachstum eines Baums ein. Man muss allerdings zwischen funktionaler und formaler Manipulation unterscheiden: Beim Barockgarten, der Pflanzen in geometrische Formen zwängt, um steinerne Architektur nachzuahmen, handelt es sich um eine rein formale Manipulation; bei der Baubotanik ist die Manipulation kein Selbstzweck, vielmehr ist die Funktion das Ziel.
Ist es ethisch zulässig, einen Baum, ein Lebewesen, derart zu manipulieren?
Wenn wir das Wachstum eines Tieres dermassen beeinflussen würden, wäre es zweifelsohne ein Frevel, Tierquälerei. Bei einem Baum ist der Sachverhalt anders.
Weshalb?
Der Baum ist ein sesshaftes Wesen, evolutionär darauf optimiert, selbst mit drastischen Ausseneinflüssen fertig zu werden. Etwa, dass bei einem Sturm ein Ast abbricht. Oder dass ein Teil der Baumkrone durch Insektenbefall wegstirbt. Ein Baum kann darauf reagieren, er wächst nach – und diese Reaktionen nutzen wir gezielt, um die Verschmelzung mit der Technik, mit Architektur zu erreichen.
Sie treten am 19. Europäischen Trendtag des Gottlieb-Duttweiler-Instituts auf, Motto: «Inspired by Nature: Die Wirtschaft von morgen basiert auf Biologie». Wie passt da die Baubotanik rein?
Wir müssen ein ökologisch-systemares Denken zu unserer Leitwissenschaft erheben, um mit den Herausforderungen unserer Zeit – etwa Klimawandel, Artensterben, Ressourcenknappheit – umzugehen. Die Baubotanik veranschaulicht dieses Denken einprägsam. Wenn man in einer Stadt ein Gebäude wahrnimmt, welches gleichzeitig Baum und Haus ist, dann versteht man doch, so hoffe ich, dass Natur und Technik nicht mehr so voneinander zu trennen sind, wie wir es immer taten. Ob auf der Ebene der Nanotechnologie oder auf der Ebene der Systemzusammenhänge: Es gibt immer mehr dieser Symbiosen von Natur und Technik, die wir konstruktiv gestalten.
Ist eine derartige Funktionalisierung von Natur nicht gefährlich?
Ja, eine schrankenlose Indienststellung von Pflanzen kann stark negative Folgen zeitigen. Denken wir nur an die industrielle Landwirtschaft. Man darf die Leistungen eines natürlichen Systems nicht überschätzen. Ein solches System hat natürliche Grenzen, die man respektieren muss. Das ist eine wichtige Erkenntnis unserer baubotanischen Arbeit.

An welche Grenzen denken Sie konkret?
Aus Bäumen gewachsene Hochhäuser etwa wird es nie geben. Solche Bauten sieht man zwar zuweilen auf futuristischen Visualisierungen, doch dies ist Fantasiearchitektur. Ein Baum hat im Laufe der Evolution gewisse Logiken und Regeln entwickelt, die in seiner DNA festgeschrieben sind. Diese gilt es zu respektieren. Es ist naiv zu glauben, dass man sich ein Haus gewissermassen züchten kann. Da überschätzt man die manipulativen Möglichkeiten an der Pflanze.
Blicken wir in die Zukunft. Wo wird die Baubotanik 2030 stehen?
Ich gehe davon aus, dass wir in sieben Jahren in Deutschland eine bewohnbare baubotanische Siedlung haben werden, bei der Bäume Teil der Gebäudestruktur sind und, etwa bei Balkonen oder Zugängen, auch eine tragende Funktion erfüllen. Das liesse sich mit dem heutigen Stand des baubotanischen Wissens umsetzen.

Dazu benötigen Sie nur noch einen mutigen Bauherrn.
Wir sind gerade dabei, eine baubotanische Baumfassade im Rahmen des sozialen Wohnungsbaus umsetzen – ich erwähne dies, um zu zeigen, dass Baubotanik nicht eine Architekturform für Reiche ist. Ja, wir sind auf Bauherren angewiesen, die Mumm haben und nicht die billigste Lösung suchen. Leider war der Immobiliensektor in den vergangenen 15 Jahren von einem ausgeprägten Renditedenken dominiert, von Leuten, die nach der kurzfristig rentabelsten Lösung suchen. Deshalb sehen wir überall diesen Wahnsinn des architektonischen Einheitsbreis, dieser Nullachtfünfzehn-Lösungen.
Sie sagten, Bäume zu pflanzen, heisse, eine Vision zu haben. Sie suchen also visionäre Bauherren.
Das kann man so sagen. Das Geld ist vorhanden, es gibt genug finanzstarke Investoren. Aber es braucht auch Persönlichkeiten, die unkonventionell zu denken wagen.
Am Mittwoch, 8. März, findet am Gottlieb-Duttweiler-Institut im zürcherischen Rüschlikon der 19. Europäische Trendtag statt – Thema: «Inspired by Nature: Die Wirtschaft von morgen basiert auf Biologie».
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