Furry FandomWenn sich Menschen wie Fabeltiere fühlen
Michelle ist ein Furry. In ihrer Freizeit schlüpft sie in ein Löwinnenkostüm und verhält sich entsprechend ihrem Furry-Charakter. Wir haben sie begleitet und Einblick in eine Szene erhalten, die von vielen missverstanden wird.
Dieser Artikel erschien erstmals am 31. März 2023. Für die Feiertage ergänzen wir unser Angebot für Sie und wünschen Ihnen eine gute Lektüre.
Verdutzt dreht sich eine asiatische Touristin um: Eine bunte Gruppe in felligen Tierkostümen zieht an ihr vorbei. Bären, Löwen und Vögel tänzeln in der Luzerner Altstadt durch die Menschenmengen. Fröhlich geben sie Tiergeräusche von sich, sie quaken, sie bellen und sie heulen. Die Touristin zückt ihr Smartphone, um die Szene festzuhalten. Passantinnen und Passanten umarmen die Fabeltiere und greifen dabei fest in die flauschigen, haarigen Kostüme. Die Gruppe posiert für Fotos und lässt sich von Kindern streicheln.
Die meisten lassen sich von der Fröhlichkeit anstecken. Andere schauen sich fragend an. Vorab: Es ist weder eine Marketingaktion noch ein verspäteter Umzug der Luzerner Fasnacht. Diese Gruppe ist Teil einer Szene, die sich «Furry Fandom» nennt (siehe Box oben). Der «Tages-Anzeiger» ist in diese bunte Welt eingetaucht und hat sie eine Weile begleitet. Schnell begreift man: Für die «Furries» bedeutet diese Zusammenkunft mehr, als sich nur zu verkleiden.
Zusammenkunft der Tiermenschen
Szenenwechsel: Furry-Stammtisch in Zürich, ein paar Wochen zuvor. Dieser befindet sich in einem abgeschirmten Raum einer Bar. Wo genau, verraten wir an dieser Stelle nicht. Die Furries sind gerne unter sich. Gegenüber Medien sind sie skeptisch. Zu oft haben sie schlechte Erfahrungen gemacht. Als Verrückte und Freaks wurden sie abgestempelt. Dass wir hier empfangen werden, ist also alles andere als selbstverständlich.
Die Gruppe sitzt verteilt an langen Tischen. Die einen sind in Gespräche vertieft, andere in die Zeichnungen ihrer menschenähnlichen Fantasietiere. Dass die anthropomorphe Kunst einen hohen Stellenwert im Fandom hat, fällt auf den ersten Blick auf.
«Hi!», heisst es plötzlich. Der Organisator des Stammtisches begrüsst mich freundlich. Er stellt sich mit seinem Furry-Namen «Latius» vor, so wie das alle im Fandom tun. Stolz zeigt er mir eine Zeichnung seines Tiercharakters. Es ist ein farbiger Drache mit zerzausten Haaren und Hörnern auf dem Kopf. «Die Hörner haben Schwimmhäute, um meine aquatische Seite etwas zum Vorschein zu bringen», erklärt er.
Die Furries seien nämlich nicht nur Fans dieser menschenähnlichen Tiere, sondern sie hätten auch eine eigene Furry-Persönlichkeit, sagt Latius. An speziellen Anlässen – wie zum Beispiel an ihrem Ausflug in Luzern – leben sie diesen Charakter in ihren Kostümen aus.
«Dieses tierische Abbild seiner selbst denkt sich jeder selber aus», sagt Latius. Im Fandom trifft man darum nicht nur auf herkömmliche Tiere wie Wölfe und Katzen, sondern auch auf selbst erfundene Mischkreaturen. «Die Beziehung und Identifikation mit der Fursona ist von Furry zu Furry anders.» Für die einen sei es mehr ein kreativer Ausdruck ihrer selbst, andere hätten eine spirituelle Verbindung zu ihrem Tier, sagt er. «Meine Bindung zu meiner Fursona ist sehr spirituell. Ich bin der Überzeugung, in einem meiner vorherigen Leben das Leben meiner Fursona gelebt zu haben.»
Neben Latius sitzt Mino. Im Fandom wird sie von einer Katze verkörpert. Mino fällt auf, denn sie ist die einzige Frau im Raum. «Ich bin als heterosexuelle Cis-Frau schon fast ein Unikat hier», sagt sie lachend. «Viele Furries sind Männer, und die Community ist sehr queer. Viele sind schwul oder bisexuell, andere sind nicht binär oder transgender.»
Nicht ganz überraschend entstand diese Bewegung nicht in der Schweiz. Mehr dazu weiss der kanadische Psychologe Courtney Plante, der dazu forscht. Die Szene finde ihren Ursprung in der amerikanischen LGBTQ+-Bewegung und der Science-Fiction-Szene. «Diese Gruppen waren schon immer sehr progressiv», sagt Plante. Die Szene sei international verknüpft. Viele treffen sich in virtuellen Welten, um sich oft stundenlang auszutauschen.
Flauschige Schutzhülle
Zurück zum Zürcher Stammi, so nennen die Furries ihren Stammtisch. Die Community scheint für viele ein wichtiger Bestandteil ihres Lebens zu sein. Für die monatliche Zusammenkunft sind sie von Solothurn, St. Gallen und Basel angereist.
Die Furries erzählen, dass das Eintauchen in die Welt ihrer fantastischen Tierwesen auch dazu diene, dem Alltag zu entfliehen. «Wir haben im Fandom die Freiheit, zu sein, wer wir sein wollen. Niemand verurteilt uns hier dafür», sagt Jay, ein lustiger Hund mit Nickelbrille.
Viele Furries beschreiben sich als sehr zurückhaltend oder scheu. Dank ihrer Kostüme trauen sie sich, auf Menschen zuzugehen. Und sie begegnen dank der Verkleidung den Menschen auf einer anderen Ebene (siehe Videoreportage oben). «Sie haben Freude, kommen auf dich zu, es ist einfach Nächstenliebe», sagt Michelle.
Szenenwechsel: Zurück nach Luzern. Genauer: ein wenig ausserhalb. Dort besuchen wir Michelle. Genauer: ihre Fursona Muru. Sie näht selber Fursuits und wirkt im Organisationskomitee des Luzerner Fursuit-Walk. An den Wänden ihres kleinen Studios hängen Bilder von anthropomorphen Tieren, und in einer Ecke hat sie ihr Atelier eingerichtet. Aus einer Kiste packt sie ihren pink-blauen Löwinnen-Fursuit aus.
Anfeindungen auf offener Strasse
«Viele Menschen verstehen nicht, warum sich jemand den ganzen Tag in ein Kostüm steckt und sich zu Tode schwitzt.» Die erste Reaktion gegenüber einem Furry sei oft Ablehnung, ergänzt Forscher Plante. «Viele haben das Gefühl, das sei mit einem Fetisch verbunden.» Muru berichtet, dass sie auch schon angefeindet worden sei. «Zum Beispiel vermutete jemand einen pädophilen Mann unter dem Kostüm.»
Unter dem pink-blauen Löwinnen-Fursuit steckt jedoch wenig später eine junge Frau. Sie freut sich, endlich mal wieder im Suit sein zu können. Am Ende des Walk springen die felligen Freunde beschwingt wieder Richtung Ausgangspunkt. Muru erklärt: «Während andere ins Wellness gehen, verbringen wir einen Nachmittag in unseren Kostümen. Das tut uns gut.»
Fehler gefunden?Jetzt melden.