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Abwanderung auf dem Balkan
«Wenn das so weitergeht, haben wir keine Handwerker mehr»

Wohin verschwinden die Balkanbewohner? Die Antwort lautet: Die meisten fangen ein neues Leben in Deutschland an. Bauarbeiter in München.
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Der Bauunternehmer in der mazedonischen Hauptstadt Skopje sagt: «Wenn das so weitergeht, haben wir keine Handwerker mehr.» Ein kosovarischer Klinikdirektor beklagt sich über den Ärztemangel: «Wir brauchen mindestens 120 Anästhesisten und Anästhesistinnen. Derzeit haben wir nur 45». Die Belgrader Boulevardpresse warnt, bis 2050 werde Serbien 1,4 Millionen Einwohner verlieren. Laut der letztjährigen Volkszählung leben in dem kleinen Balkanland knapp 6,7 Millionen Einwohner. Im vergangenen Jahrzehnt sind über 500’000 Serbinnen und Serben ausgewandert.  

Nach Schätzungen der deutschen Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (GIZ) kehren Serbien jährlich bis zu 60’000 Menschen den Rücken. Demografie-Experten in Bosnien-Herzegowina weisen darauf hin, dass seit 2013 fast eine Viertelmillion Menschen ihre Heimat verlassen haben. Der albanische Ministerpräsident Edi Rama droht den angehenden Medizinern, man werde ihnen keine Diplome ausstellen, wenn sie unmittelbar nach dem Studium emigrierten.

Angst vor einer «humanitären Katastrophe»

Wohin verschwinden die Balkanbewohner? Die Antwort lautet: Die meisten fangen ein neues Leben in Deutschland an. «Es kann nicht sein, dass Deutschland uns die Ärzte und Krankenpfleger wegnimmt, während wir für ihre Ausbildung zahlen», meint Edi Rama.

Nach Angaben der Vereinten Nationen und der Weltbank wird die demografische Krise in Südosteuropa bis 2050 verheerende Folgen haben: Rauchende Männer und Frauen vor einem Restaurant in Skopje.

Deutschland braucht dringend Arbeitskräfte. Es fehlt Personal an allen Ecken. Der bayerische Gesundheitsminister spricht von einer drohenden «humanitären Katastrophe». Ausgebildete Pfleger, Buschauffeure, Ärzte, Handwerker, IT-Spezialisten – für sie alle hat Deutschland Tür und Tor geöffnet. Schon 2016 trat die sogenannte Westbalkanregelung in Kraft, die es Menschen aus Albanien, Bosnien-Herzegowina, Kosovo, Nordmazedonien, Montenegro und Serbien ermöglicht, ein Arbeitsvisum für Deutschland zu erhalten. Die Antragssteller müssen lediglich einen Arbeitsvertrag vorweisen, Deutschkenntnisse und berufliche Qualifikation sind nicht erforderlich.

Die meisten Balkanstaaten bluten aus, vielerorts mangelt es an Ärztinnen, Pflegern oder Sanitärinstallateuren. Gleichzeitig geht die Geburtenrate zurück.

Eingeführt wurde die Regelung 2016 und sollte Ende 2020 auslaufen. Wegen der hohen Nachfrage wurde sie bis zum 31. Dezember 2023 verlängert. Nun gibt es Überlegungen, die Anwerbung von ausländischen Arbeitskräften noch intensiver fortzusetzen, «um kluge Köpfe und helfende Hände für unseren Arbeitsmarkt zu gewinnen», so der deutsche Arbeitsminister Hubertus Heil.

Die deutschen Behörden versuchen seit Jahren, den Eindruck zu erwecken, es handle sich bei der Rekrutierung der Arbeiter eigentlich um Entwicklungshilfe für die balkanischen Armenhäuser. Das entsprechende Programm wird beschönigend «Triple Win» genannt, weil angeblich alle profitieren: der Bewerber, das Heimatland und Deutschland.

Das ist natürlich weit von der Wahrheit entfernt. Die meisten Balkanstaaten bluten aus, vielerorts mangelt es an Ärztinnen, Pflegern oder Sanitärinstallateuren. Gleichzeitig geht die Geburtenrate seit Jahren zurück und ist teilweise niedriger als in manchen westeuropäischen Ländern. Nach Angaben der Vereinten Nationen und der Weltbank wird die demografische Krise in Südosteuropa bis 2050 verheerende Folgen haben.

Für die Bürger der EU-Staaten Rumänien, Kroatien und Bulgarien ist es noch einfacher auszuwandern: Sie geniessen die Niederlassungsfreiheit im EU-Raum. In vielen rumänischen Städten fehlt Klinikpersonal, wie sich während der Pandemie gezeigt hat. Seit dem Zusammenbruch des Kommunismus hat das Land über vier Millionen Staatsbürger verloren, die zum Arbeiten in den Westen abgewandert sind. Rumänische Baufirmen holen inzwischen Saisonarbeiter aus Asien. Ein Hotelier in der kroatischen Adriastadt Dubrovnik lobt seine aus Nepal stammenden Kellner in höchsten Tönen. Seit dem EU-Beitritt Kroatiens 2013 sind Zehntausende vor allem nach Deutschland gezogen, um dort zu arbeiten. Setzt sich der Trend fort, könnte das ein Problem werden für die Sozialwerke der etwa vier Millionen Einwohner zählenden Adriarepublik.

Der bayerische Ministerpräsident Markus Söder will im Eilverfahren Fachkräfte vom Balkan holen. Kürzlich begab er sich auf eine Abwerbetour in Rumänien und Albanien. In der albanischen Hauptstadt Tirana soll gegenüber dem Amtssitz des Premiers ein neues Büro der Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft entstehen, um offensiv Arbeiter abzuwerben.

Die Bayern-Balkan-Brücke

Söder versprach auch Investitionen, kündigte eine Bayern-Balkan-Brücke und eine Südosteuropa-Strategie an, ohne konkret zu werden. Immerhin schenkte er dem albanischen Premier eine Statue von Franz Josef Strauss. Der legendäre bayerische Ministerpräsident hatte ab Mitte der 1980er-Jahre das kommunistische Albanien mehrmals besucht und den Weg für die Aufnahme der diplomatischen Beziehungen zwischen dem Balkanstaat und der Bundesrepublik Deutschland geebnet. Das schätzen die Albaner sehr – so sehr, dass ein Platz in Tirana den Namen Franz Josef Strauss trägt.

Bayerns Ministerpräsident Markus Söder in der albanischen Hauptstadt Tirana. Er schenkte Premierminister Edi Rama eine Statue von Franz Josef Strauss.

Über die Ursachen der Abwanderung wollen weder die Politiker in Tirana noch in den anderen Hauptstädten der Region sprechen. Es sind unangenehme Ursachen: Die Korruption, der Klientelismus und die organisierte Kriminalität lähmen die dortigen Gesellschaften und treiben Tausende nach Westeuropa. Besonders beunruhigend ist, dass immer mehr Gutverdienende weggehen. Die dünne Mittelschicht auf dem Balkan wird noch dünner. Und der deutsche Wirtschaftsminister Robert Habeck wirbt seit Monaten in einem Video um ausländische Arbeitskräfte mit der klaren Botschaft: «We need you».