TV-Kritik «Tatort»Wenn das Gehirn die Erinnerung verweigert
Der Münchner «Tatort» taucht anhand einer Alzheimer-Therapie in die 1980er-Jahre ein – und treibt in der Gegenwart den Puls hoch.
Es ist die 88. Folge der Münchner Teams, diese Top-Combo aus dem «Tatort»-Kosmos. Seit 1991 gehen Leitmayr (Udo Wachtveitl) und Batic (Miroslav Nemec) auf die Piste, und einige der besten «Tatorte» überhaupt wurden von den beiden verbalen Sparringpartnern bestritten, die auch gern mal ins Ruppige hineinrutschen. Zum Schnapszahljubiläum gab es nun die Idee, einen «historischen» Sonntagabendkrimi zu schaffen – der aber trotzdem aktuell daherkommen sollte. Das ist geglückt.
1987 also wurde eine junge Frau nach dem Besuch der damals angesagten, drogenmässig nicht unterversorgten Disco Flash umgebracht, ihr langes Haar wurde abgefackelt, die Leiche am Fluss liegen gelassen. Der Mann, der dafür verurteilt wurde, ist nun, nach gut dreissig Jahren, auf freiem Fuss – und er ist abgetaucht. Man befürchtet, dass er wieder zuschlägt; aber Batic und Leitmayr haben einen ungewöhnlichen Plan.
Der forensische Psychiater, der den Mörder einst untersuchte, ist inzwischen schwer dement und lebt bei seiner erwachsenen, zunehmend überforderten Tochter (eine erstklassige Jenny Schily). Sie erlaubt, bei ihm im Rahmen der Ermittlungen die Reminiszenztherapie einzusetzen. Demente sollen mithilfe von Details aus früherer Zeit – Liedern aus Kindheit und Jugend, alten Fotos, nachgebauten Räumlichkeiten – wieder mehr Zugang zu ihren Erinnerungen und Gefühlen finden; und Leitmayr bemüht sich, in der simulierten Praxis des Ex-Psychiaters dessen Erinnerungen an den Triebtäter zu stimulieren. Lassen sich auf diese problematische Art Hinweise auf dessen Aufenthaltsort zu ergattern? Ein Psychiater beaufsichtigt das Experiment: André Jung überzeugt als hochgradig ambivalente Figur.
Das Drehbuch von Sönke Neuwöhner und Sven Poser führt uns dabei mit gleich zwei Twists aufs Glatteis; und wie die Zuschauenden in die Irre geleitet werden, ist durchaus ein Clou. Auch optisch spielt der Film in Rückblenden mit immer wieder weghuschenden, nur halb greifbaren Augenblicken. Andreas Kleinerts Regie inszeniert sowohl den Drogenflash als auch den Trauma-Flashback in starken, rauschhaften Takes, die demonstrieren, wie (übel) uns das Gehirn mitspielt. Der Film lässt Unausgesprochenes sirren, während Led Zeppelin «Whole Lotta Love» abrockt.
Das ist gekonnt. Wirklich faszinieren tun freilich vor allem die Szenen, die den Umgang mit dem dementen Greis (Peter Franke) zeigen: die heiklen Verhörgespräche und die Versuche der Tochter, ihrem Vater gerecht zu werden, ohne sich selbst völlig aufzugeben. Chapeau!, würde man da gern begeistert rufen, wäre dies nicht eine schmerzliche Realität für viele Menschen überall. Doch, die Münchner, die liefern.
Begleitend gibt es in der ARD Mediathek online die Doku «Tatort Gehirn: Wie funktioniert Erinnern und Vergessen?» aus der Sendereihe «Gut zu wissen». Sie beantwortet auch Fragen zur Reminiszenztherapie.
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