Ungehörte WissenschaftWeiterer Frust-Rücktritt aus Taskforce
Der überraschende Entscheid des Bundesrats über die Öffnungen irritiert die Wissenschaft. Jetzt äussert sich ein weiteres Taskforce-Mitglied und tritt ab.
Der Bundesrat hat am Mittwoch überraschend Lockerungen beschlossen. Ab Montag sind Kino, Fitness und Sport wieder möglich, auch die Terrassen der Restaurants dürfen wieder öffnen. Der Entscheid kam für viele unerwartet. Schliesslich lockerte der Bundesrat die Corona-Massnahmen, obwohl seine eigenen Kriterien dafür nicht erfüllt sind. Dass die Öffnungen mitten in einer Phase steigender Fallzahlen eingeleitet werden, erstaunte. «Wir gehen ein Risiko ein», bestätigte Alain Berset an der Medienkonferenz, «es ist aber vertretbar für unsere Gesellschaft.»
Doch wie steht die wissenschaftliche Taskforce zu dieser weitreichenden Öffnung? Die Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen haben seit längerem einen schweren Stand. Nachdem die Mitglieder für ihren grossen Einfluss kritisiert worden waren und als Sündenbock für die Einschränkungen herhalten mussten, üben sie sich bereits seit längerer Zeit in Selbstbeschränkung – und sind dabei fast gänzlich verstummt. Auch am Tag nach der Bekanntgabe der Lockerungen fehlten die Einschätzungen aus der Taskforce (lesen Sie dazu unseren Kommentar: Wo bleibt die Stimme der Wissenschaft?).
Jetzt zieht ein Mitglied der Taskforce seine Konsequenzen: Mit dem Neurowissenschaftler Dominique de Quervain hat am Freitag ein weiteres Taskforce-Mitglied seinen Rücktritt verkündet. «Heute verlasse ich die Science Taskforce», verkündete der Basler Professor auf Twitter. Dabei erhob er schwere Vorwürfe: «Das ihr auferlegte politische Korsett verhindert die dringend notwendige, ungefilterte wissenschaftliche Aufklärung.»
Lockerungsschritte als «Fehler» bezeichnet
De Quervain war Mitglied der Expertengruppe «Public Health» und befasste sich mit der psychischen Gesundheit während der Corona-Pandemie. In Zukunft werde er seine Expertise im Bereich Mental Health unabhängig der Öffentlichkeit zur Verfügung stellen, schrieb der renommierte Neurowissenschaftler.
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De Quervain hatte am Mittwoch die vom Bundesrat beschlossenen Lockerungsschritte als «Fehler» bezeichnet. «Die Folgen werden u. a. verfrühter Optimismus und damit unvorsichtiges Handeln sein», warnte der Stressforscher. Schon bald werde man einen umso höheren Preis dafür bezahlen müssen – auch psychischer Natur.
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Mit dieser Meinung steht er nicht allein da. Auch der Berner Epidemiologe Christian Althaus hatte den Entscheid des Bundesrats kritisiert. «Schwer nachzuvollziehen, wie man sich so kurz vor dem Ziel noch ins eigene Knie schiessen kann», twitterte der Epidemiologe, der bereits im Januar aus der wissenschaftlichen Taskforce zurückgetreten war.
Politik wollte Wissenschaft Maulkorb verpassen
Die Politik müsse lernen, der Wissenschaft auf Augenhöhe zu begegnen, hatte Althaus bei seinem Rücktritt gefordert. Nach der Bekanntgabe seines Kollegen reagierte Althaus sogleich: «Schade, aber verständlich. Tausend Dank für deinen enormen Einsatz.» Es sei wichtig, dass de Quervains Stimme in der öffentlichen Debatte erhalten bleibe.
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Althaus hat am Donnerstag bezüglich unseres Kommentars ebenfalls ein Zeichen der Taskforce-Mitglieder gefordert. «Es ist in der Tat etwas verstörend, dass nach diesem radikalen Kurswechsel des Bundesrats weder das BAG noch die Taskforce die Öffentlichkeit über die zu erwartenden Konsequenzen informiert. Diese Einordnung wäre jetzt sehr wichtig», forderte der Epidemiologe auf Twitter.
Auch Reto Knutti, Professor für Klimaphysik an der ETH Zürich, äusserte sich zum verstummten Gremium. «Nachdem die Politik der Wissenschaft Kakofonie vorgeworfen hat, ihr einen Maulkorb verpassen wollte, die Unis kalte Füsse bekommen und die Medien die ‹Experten-Euphorie› kritisieren, wundert man sich, warum die Wissenschaft nichts mehr sagt», twitterte Knutti.
Im Parlament wurde im März über einen Maulkorb für Mitglieder der vom Bundesrat im letzten Jahr geschaffenen wissenschaftlichen Taskforce diskutiert. Die Wirtschaftskommission des Nationalrats wollte, dass nur noch der Präsident der Begleitgruppe des Bundes in der Öffentlichkeit in Erscheinung treten darf. Der Nationalrat lehnte das Ansinnen aber mit 116 zu 78 Stimmen ab.
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