Was wir lesenElias Canetti: «Masse und Macht»
Unser Autor liest zu seinem eigenen Leidwesen oft komplizierte Texte. Zum Glück gibt es dieses Handbuch des Totalitarismus. Und das Cover ist so schön!
Ich lese gerne Romane, Novellen und Kurzgeschichten, die mich die Zeit vergessen lassen. Zum Lesen angetrieben werde ich allerdings eher von sachlichen Inhalten, weshalb ich leider immer wieder bei ziemlich sperrigen Texten lande.
Ein Glück gibt es Elias Canetti. Sein monumentaler Essay «Masse und Macht» steht seinen literarischen Werken in nichts nach, man wird durch die fast 600 Seiten wie auf einer Wolke getragen.
Angesichts des Themas ist das auch nötig: Canetti hat den Text unter dem Eindruck des Faschismus geschrieben, entsprechend hart ist der Stoff. Es ist aber nicht ein weiteres Buch über NS-Deutschland, sondern eine umfassende Analyse davon, wie Macht in autokratischen Systemen strukturiert ist. Dafür hat Canetti so ziemlich alle Winkel des Themas abgetastet: von der Entstehung einer Masse über die Funktionsweise von Befehlen bis zum gemeinsamen Essen und der Hand als Figur der Macht. Der Text ist weder rein philosophisch noch nur soziologisch noch ausschliesslich anthropologisch, er ist ein bisschen von allem und mehr als die Summe seiner Teile. Es werden Zusammenhänge sichtbar, die man in einem 1960 erschienenen Buch nicht erwarten würde; etwa wie ähnlich sich Sklaverei und Tierhaltung sind. Oder wie technische Mittel die Macht der Einzelnen gleichzeitig erhöhen und flüchtiger werden lassen.
Zugegeben, der Text ist kein Geheimtipp, aber auch wenn man ihn schon kennt, lohnt sich die erneute Lektüre. Was Canetti über Führerfiguren, Gruppenbildung und Gewalt schreibt, ist in Zeiten, in denen mit den USA selbst die älteste Demokratie der Welt ausgehöhlt wird, hoch relevant.
Oder nach Canetti: «Für jeden grossen Namen in der Geschichte könnten, vereinzelt, hundert andere stehen. Begabung und Schlechtigkeit sind in der Menschheit weit verbreitet.»
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