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Chaos am Flughafen Genf
«Was? Streik? In der Schweiz?»

Vor dem Flughafen Genf spielen sich am Freitag chaotische Szenen ab: Während die Flughafenangestellten streiken, drängen Hunderte Passagiere in die Check-in-Halle. 
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Bahnhof Lausanne, 4.51 Uhr. Im Regionalzug mit Destination Flughafen Genf platzieren zwei Frauen ihre Rollkoffer, lassen sich auf die Sessel fallen und werfen sich schweigend Blicke zu. «Geschafft!» lässt sich ihren Augen ablesen. 

Fünf Sekunden und eine Frage später wechselt die Stimmung abrupt. Ob sie denn nicht wüssten, dass der Flughafen wegen einer Lohnreform bestreikt werde, heisst die Frage. Die Frauen schauen sich ungläubig an. «Was? Streik?», fragen sie zurück und signalisieren, worüber sie nichts wissen, wollen sie auch nicht diskutieren, um diese Uhrzeit schon gar nicht. 

«Wir gehen jetzt an den Aéroport und nehmen unser Flugzeug!», sagt eine von ihnen. Damit hat sich für sie das Thema erledigt, und die beiden fühlen sich in ihrer Haltung bald bestärkt: Denn im Regionalzug nach Genève Aéroport steigen immer mehr Leute zu – und auch sie schieben Rollkoffer vor sich her.

Direkt in die Sackgasse

Doch ein Blick auf die Website des Genfer Flughafens lässt nichts Gutes erahnen: In seiner 104-jährigen Geschichte wird der Flughafen am Freitag zum ersten Mal bestreikt. Aufgrund eines angekündigten Streiks «mehrerer kritischer Dienste» am Genève Aéroport habe man entschieden, die Start- und Landebahn zwischen 6 und 10 Uhr zu schliessen, schreiben die Flughafenchefs. Neue Informationen werde es geben, «sobald Sicherheitsgarantien vorhanden sind».

Um 6 Uhr zeigt sich: Dutzende Flüge sind bereits annulliert. Wer nach Belgrad, Nizza, London oder Barcelona kommen will, muss sich gedulden. Die Swiss streicht von 19 Flügen deren 8 und verschiebt 11 auf einen späteren Zeitpunkt. Bis zum Ende des Tages werden am Flughafen 138 Flüge gestrichen sein.

Man habe Passagiere am Vorabend nach Zürich transferiert, sie würden nun von dort abfliegen, sagt ein Swiss-Mitarbeiter. Doch die Probleme würden nicht kleiner. Sämtliche Swiss-Flüge seien komplett ausgebucht, gestern, heute, morgen.

Passagiere versuchen, auf den Bildschirmen zu erspähen, ob und wann ihre Flüge gehen.

Die Passagiere anderer Fluggesellschaften haben weniger Glück: Einige wurden informiert, ihr Flugzeug würde «so bald wie möglich» abheben. Sie passieren schon mal die Sicherheitskontrolle, wo sich Securitas-Mitarbeiter um sie kümmern. Für sie beginnt jetzt das lange Warten. Die Nervosität steigt überall.

«Wir fliegen über Katar nach Brisbane», sagt die Mutter einer Familie, um dort Ferien zu machen und damit die Kinder ihr Englisch verbessern. «Wenn wir in Katar den Anschlussflug verpassen, wird die Reise definitiv zur Odyssee. Aber wenn wir in Genf um 10.15 Uhr statt um 9.15 Uhr abfliegen, sollte es reichen», spricht sich die Mutter Mut zu.

«Es gibt für einen Flughafen keinen guten Zeitpunkt für einen Streik.»

Pierre Bernheim, VR-Präsident des Genfer Flughafens

Ein Paar aus Hochsavoyen hat gerade realisiert, dass sein Flug annulliert wurde, und versteht die Welt nicht mehr. Das tönt dann so: «Was? Streik? In der Schweiz? Wir sind das von Frankreich gewohnt, aber hier in der Schweiz… Putain! Chier!»

In Genf beginnen an diesem Freitag die Schulferien. 50’000 Leute wollen sofort verreisen, hat der lokale Fernsehsender Léman Bleu errechnet. Zwischen 6 und 10 Uhr morgens sollten gemäss Flughafendirektion 8000 Passagiere Flugzeuge besteigen. Pierre Bernheim, der Verwaltungsratspräsident des Flughafens, hatte noch vor wenigen Tagen selbstbewusst per Communiqué informiert, man werde diesen Sommer drei Millionen Passagiere abfertigen, und man sei bereit dafür. 

Warum drückt er die Lohnreform just zum Ferienbeginn durch und riskiert einen länger anhaltenden Streik? «Es gibt für einen Flughafen keinen guten Zeitpunkt für einen Streik», sagt er. Er masse sich jedenfalls nicht an, zu entscheiden, was wichtiger ist: Ferienreisen im Sommer oder Flitterwochen im Herbst.

Der Beginn einer grösseren Bewegung?

Ab 8 Uhr werden die Schlangen nicht nur in der Check-in-Halle, sondern auch vor dem Flughafengebäude immer länger. Die Lage wird immer unübersichtlicher. Derweil strömen draussen immer mehr Flughafenangestellte zusammen und diskutieren eifrig. Wie viele der 1000 Mitarbeiter tatsächlich streiken, lässt sich nicht eruieren.

«Ein Streik braucht Mut, doch das Flughafenpersonal hat recht.»

Natascha Wey, VPOD-Generalsekretärin

Auch VPOD-Generalsekretärin Natascha Wey ist da. «Ein Streik braucht Mut, doch das Flughafenpersonal hat recht», sagt sie. Sie sehe die Notwendigkeit für Sparmassnahmen nicht. Finanziell gehe es dem Flughafen seit dem Ende der Pandemie bestens, ergänzt Pierre-Yves Maillard, Präsident des Gewerkschaftsbundes. Für den Genfer SP-Nationalrat und Anwalt Christian Dandrès ist der Arbeitskampf am Flughafen «nur der Beginn einer noch grösseren Streikbewegung in Genf». Die Genfer Kantonsangestellten begännen sich gegen sich verschlechternde Arbeitsbedingungen zu wehren, weiss er.

Flughafendirektor André Schneider versucht mit neuen Vorschlägen, die Mitarbeitenden vom Streiken abzubringen. 

«Ich habe eine wichtige Durchsage!», ruft kurz vor neun Uhr VPOD-Sekretär Jamshid Pouranpir ins Mikrofon. Er habe einen Anruf von Flughafendirektor André Schneider bekommen. Schneider wolle mit einer Gewerkschaftsdelegation verhandeln. Es gibt Pfiffe. Aber die Flughafenmitarbeiter schicken Pouranpir und eine Delegation dann doch mit Applaus in die Verhandlungen.

Pfiffe für den Flughafenchef

Gegen 9.30 Uhr ist Gewerkschafter Pouranpir zurück. Jetzt taucht auch Flughafendirektor André Schneider bei den Streikenden auf und wird gnadenlos ausgepfiffen. Er habe eine Botschaft, sagt Schneider. Er wolle die Situation befrieden und zugleich den Entscheid des Verwaltungsrats respektieren, sagt er und schlägt eine ausserordentliche Prämie und eine Erhöhung der Gewinnbeteiligung vor und verspricht, dass bis September alle Mitarbeitenden wüssten, welchen Lohn sie künftig haben würden.

Die Schlangen vor dem Genfer Flughafen werden am Freitagmorgen immer länger. 

Kaum hat Schneider seine Botschaft vom Zettel abgelesen, wird er ausgebuht. Die Angestellten wollen nur eines: Direktor Schneider soll die Lohnreform rückgängig machen. Schneider zieht wortlos von dannen und mit ihm bald auch VR-Präsident Pierre Bernheim. Die Belegschaft des Flughafens beschliesst derweil einstimmig und unter Jubel, die Vorschläge der Direktion abzulehnen, ihren Streik den ganzen Tag fortzusetzen und am Samstag gleich weiterzustreiken. Die nächste Eskalationsstufe.

Der Entscheid hat weitreichende Konsequenzen. Am Freitag können ab 10 Uhr zwar wieder Flugzeuge starten und landen, weil die insgesamt 13 Bodenlotsen, die die Piloten zu den Parkpositionen führen, wieder arbeiten. Dafür fehlt aber das Personal bei der Passagierabfertigung. Es ist nur noch ein absoluter Minimalbetrieb möglich. Und am Samstag wollen alle weiter streiken. «Man muss hart und schnell zuschlagen», sagt ein Flughafenangestellter. 

Die letzte Hoffnung

Für Direktor Schneider und VR-Präsident Bernheim sind das schlechte Nachrichten. Tausende wollen weg. Weg aus Genf in die Ferien. Wenn sie denn können.

Gegen Mittag schaltet sich plötzlich Finanzdirektorin Nathalie Fontanet (FDP) in den Konflikt ein und bringt die Wende. Sie trifft sich mit den Gewerkschaften und tauscht sich mit der Flughafenführung aus. Kurz vor 18 Uhr ist ein Kompromiss gefunden. Der Streik für Samstag wird abgesagt. Die Genfer dürfen wieder von Ferien träumen. Die Lohnreform wird erst per 1. Januar 2025 in Kraft gesetzt. Bis dann werden Arbeitsgruppen und Mediatoren nach fairen Lösungen suchen. Es ist ein Spiel auf Zeit. Aber der Arbeitsfriede ist wiederhergestellt. Alle sind glücklich, bis zum nächsten Streik.