Warum Schmerzpillen wie Bonbons verteilt wurden
An der Opioid-Epidemie sterben allein in den USA jede Woche 900 Menschen. Zwei Ärzte erklären, wie es so weit kam.
Die Morgenvisite an einem Frühlingstag im Jahr 1999 war gerade vorüber, als Mike Schmidt plötzlich ein ungeheuerlicher Gedanke durch den Kopf schoss. Eben noch hatte sich der Patient im Zimmer 419 vor Schmerzen gekrümmt und vehement nach einem starken Medikament verlangt, nun schallten aus demselben Zimmer lautes Geschnatter und Gelächter über den Gang. Als Schmidt, damals Facharztanwärter in einer New Yorker Klinik, die Tür öffnete, sah er den jungen Mann quietschfidel im Bett herumalbern, seine Freunde fläzten sich auf dem Boden und auf der Fensterbank. «Ich dachte auf einmal: Was, wenn der gar nicht krank ist, sondern nur so tut, um an das Rezept für ein opioidhaltiges Mittel zu kommen?», erzählt der heute 51-Jährige.
Heute ist Schmidt, der eigentlich anders heisst, sicher, dass sein Verdacht berechtigt war: Der 17-Jährige von Zimmer 419 war einer jener Zigtausenden Opioid-Süchtigen in den USA, die Ende der Neunzigerjahre zunächst von Medikamenten wie Oxycontin abhängig wurden und später häufig auf die chemischen Verwandten Heroin und Fentanyl umstiegen. 400'000 Amerikaner sind seither an einer Überdosis jenes Stoffes gestorben, der starke Schmerzen lindern kann, aber auch für seine euphorisierende Wirkung bekannt ist. Auch heute noch rafft die Epidemie jeden Tag 130 Menschen dahin. Es ist die schlimmste Rauschgiftkrise, welche die USA je erlebt haben.
Honorige US-Konzerne
Was die Epidemie von früheren unterscheidet: Die Hauptverantwortlichen waren lange Zeit nicht mexikanische Kartelle oder chinesische Fentanyl-Panscher, sondern zuallererst vermeintlich honorige US-Konzerne. Der wohl wichtigste unter ihnen ist der Pharmariese Purdue, der jahrzehntelang jede Verantwortung von sich wies, nun aber doch mit mehr als 2000 Städten, Gemeinden, Bundesstaaten und Spitälern vor Gericht um einen Milliardenvergleich ringt. Doch selbst wenn am Ende tatsächlich viel Geld fliessen sollte: Die Frage, wie es sein kann, dass morallose Manager eine Drogenkatastrophe von historischem Ausmass verursachten und kein Präsident, von Bill Clinton bis Donald Trump, beherzt eingriff, wird bleiben.
Purdue hatte Oxycontin 1995 auf den Markt gebracht. Es galt zunächst als neue Wunderwaffe gegen starke Schmerzen. Der Konzerneigentümer, die Milliardärsfamilie Sackler, wusste jedoch offenbar von Beginn an um eine gefährliche Nebenwirkung: Oxycontin macht sehr rasch körperlich abhängig. Statt jedoch zu warnen, setzten die Sacklers eine riesige Maschinerie in Gang, um die Pillen als Standardmedikament selbst für leichtere Schmerzen zu etablieren: Sie schalteten Anzeigen, spendeten an Politiker, «berieten» Angehörige und bearbeiteten die Ärzte, die das Mittel verschreiben sollten. «Die schickten uns ihre hübschesten Damen in die Klinik», erinnert sich der Notfallmediziner David Kaufman, der in mehreren kalifornischen Spitälern gearbeitet hat und ebenfalls seinen echten Namen gerne für sich behalten möchte. «Die gingen mit den Ärzten essen, machten ihnen schöne Augen – und schwatzten ihnen das Medikament auf.»
Die Spieler eines Footballteams wurden regelmässig mit Oxycontin behandelt. Heute ist die Hälfte der damaligen Teenager süchtig – oder tot.
Im ganzen Land begannen Ärzte damit, Opioid-Präparate zu verschreiben. Senioren mit Knieproblemen erhielten sie ebenso wie Kinder mit Bauchschmerzen. In Kentucky wurden die Spieler eines Highschool-Footballteams nach Recherchen des Magazins «New Yorker» regelmässig mit Oxycontin behandelt, wenn sie sich verletzten. Einige Jahre später war die Hälfte der einstigen Teenager-Mannschaft süchtig – oder tot. Mancherorts waren am Ende ganze Strassenzüge drogenverseucht. «Wir haben den Leuten Opioide verschrieben, als wären es Zuckerbonbons», gesteht Kaufman. «Die Pharmafirmen haben uns missbraucht – und wir haben uns missbrauchen lassen.»
Irgendwann jedoch schwante vielen Ärzten, wie gross das Suchtpotenzial des Medikaments tatsächlich ist. Doch wer sich weigerte, Oxycontin zu verschreiben, bekam rasch Schwierigkeiten, wie Schmidt sich erinnert: von den Patienten, von Eltern, die das modernste, stärkste Schmerzmittel für ihre Kinder verlangten, von Oberärzten und Verwaltungsmenschen, die Angst vor schlechten Noten in den Bewertungsportalen hatten. Ein Problem, sagt auch Kaufman, das bis heute besteht: «Wer zwei oder drei Patienten nicht das verschreibt, was sie haben wollen, bekommt rasch ein paar schlechte Bewertungen. Das hat oft direkte Folgen – auch für unseren Bonus.»
500 Milliarden Schaden
Erst nachdem die Zahl der Überdosistoten in der ersten Hälfte des neuen Jahrzehnts dramatisch in die Höhe geschnellt war, reagierten die Behörden. Sie verschärften die Verschreibungsregeln für Oxycontin & Co. – und machten damit alles noch schlimmer: Viele Süchtige stiegen nun auf das billigere Heroin um, später gar auf Fentanyl, ein synthetisches Opioid, das oft mit anderen Substanzen gestreckt wird und sich kaum richtig dosieren lässt. Wieder explodierten die Todeszahlen.
Nicht alle, die abhängig wurden, auch das gehört zur Wahrheit, waren schuldlos. Manche experimentierten mit Oxycontin, das eigentlich langsam über viele Stunden wirkt. Wer aber die volle Dröhnung wollte, musste lange Zeit nur den Beipackzettel lesen: Dort hiess es, dass man zur Vermeidung einer sofortigen, kompletten Wirkstofffreigabe die Tablette niemals «kauen oder gemörsert einnehmen» dürfe – es war eine Art Bedienungsanleitung zum Missbrauch. Nachschub erhielten die Abhängigen nicht zuletzt von korrupten Ärzten.
Erst durch die Bündelung von über 2000 Klagen ist es gelungen, Purdue zu Milliardenzahlungen zu zwingen.
Heute haben nicht nur unzählige Familien im Land ihre Mütter und Väter, Kinder und Enkel an die Sucht verloren. Hinzu kommt vielmehr ein volkswirtschaftlicher Schaden von 500 Milliarden Dollar. Betroffen sind vor allem ländliche Kommunen, in denen Sanitäter und Feuerwehrleute manchmal den ganzen Tag kaum anderes tun, als Menschen, die überdosiert haben, per Notfallspray ins Leben zurückzuholen.
Vier Arzneimittelhersteller haben letzte Woche wegen ihrer Rolle in der Opioid-Krise einen Vergleich erzielt und zahlen dafür 260 Millionen Dollar. Damit wurde der Opioid-Prozess, der in Cleveland im US-Bundesstaat Ohio beginnen sollte und der erste auf Bundesebene gewesen wäre, in letzter Minute abgewendet. Der US-Pharmariese Purdue, der Hersteller von Oxycontin, hat in eigenen Vergleichsverhandlungen bisher 10 bis 11 Milliarden Dollar an Unterstützungszahlungen angeboten. Die Sacklers würden durch die Vereinbarung zwar ihre Firma sowie 3 Milliarden Dollar aus der Privatschatulle verlieren. Aber: Während mancher Betroffene bittere Not leidet, blieben sie Milliardäre. Und: Dadurch, dass Purdue aus formellen Gründen zunächst in Insolvenz geschickt werden soll, wäre der Zugriff auf ihr Privatvermögen womöglich auf alle Zeit verbaut. «Die Familie, die ein Imperium des Schmerzes schuf», wie der «New Yorker» einst schrieb, wäre fein raus.
Das ist einer der Gründe, warum der Vergleichsvorschlag unter den Bundesstaaten so umstritten ist. Befürworter wie Herbert Slatery, der Generalstaatsanwalt von Tennessee, verweisen darauf, dass es durch die Bündelung von mehr als 2000 Klagen vor einem einzelnen Gericht gelungen sei, Purdue zu Milliardenzahlungen sowie zur Bereitstellung kostenloser Medikamente für die Suchtbehandlung zu zwingen. Ausserdem seien die Sacklers «ein für alle Mal raus aus der Pharmaindustrie».
Jeden Tag ein Flugzeugabsturz
Kritikern wie Slaterys Kollegin Maura Healey aus Massachusetts hingegen geht das alles nicht weit genug. Für sie ist der Vergleichsvorschlag nicht mehr als ein Täuschungsmanöver, ein «taktischer Versuch des Unternehmens, das Vermögen der Sacklers zu schützen». Dass die Sacklers all die Milliarden, die sie über Jahre aus dem Konzern herausgezogen und teils über Briefkastenfirmen ins Ausland geschafft haben sollen, behalten dürften, sei «eine Beleidigung all jener Familien, die geliebte Menschen an diese Epidemie verloren haben». Auch habe bis heute kein einziger Verantwortlicher seine persönliche Schuld eingeräumt und um Verzeihung gebeten.
Das immerhin tun nun Ärzte wie Schmidt und Kaufman, wobei Letzterer sich bis heute wundert, dass angesichts der immer noch 900 Toten pro Woche nicht dauernd ein neuer Aufschrei durch das Land und die Politik geht. «Es ist so», klagt der Notfallmediziner, «als fiele ein Mittelstreckenflugzeug mit 130 Menschen an Bord vom Himmel – jeden Tag aufs Neue.»