Ihr Browser ist veraltet. Bitte aktualisieren Sie Ihren Browser auf die neueste Version, oder wechseln Sie auf einen anderen Browser wie ChromeSafariFirefox oder Edge um Sicherheitslücken zu vermeiden und eine bestmögliche Performance zu gewährleisten.

Zum Hauptinhalt springen
Meinung

Abschiedsbrief an den Sommer
Wie eine Affäre, die einschläft, bevor sie richtig begonnen hat

Spätsommerlicht über dem Zürichsee.
Jetzt abonnieren und von der Vorlesefunktion profitieren.
BotTalk

Lieber Sommer 

Ich habe dieses Jahr sehr lange auf dich gewartet. Im Mai, am Auffahrtswochenende sagtest du kurz Hallo. Danach hast du speziell in unserer Region sehr lange sehr viel Regen programmiert.

Als es Ende Juni zum etwa zehnten Mal in Folge am Wochenende regnete, weinte ich. Ich habe meine Freunde genervt, weil ich so sehr unter dem nassen Wetter gelitten habe. Aber ich brauche dich einfach. Ohne dich bin ich ein halber Mensch.

So um die Sommerferien herum, als die Tage schon wieder kürzer wurden, kamst du doch noch um die Ecke. Mit strahlenden Tagen im Gepäck, die manchmal mit Gewitter endeten. Trotzdem verzeichnet mein Sport-Abo mittlerweile 35 Badi-Eintritte. Schwimmen gehen im See geht ja auch, wenn nicht durchgehend perfektes Wetter ist.

Doch jetzt, wo ich dich mit all deinen Schwächen lieben gelernt habe, muss ich schon wieder Abschied von dir nehmen. Die letzten warmen Tage sind gezählt. Du bist wie eine heftige Affäre, die einschläft, bevor sie richtig begonnen hat.

Ach, ich weiss ja, dass ich dich nicht nur geniessen sollte. Du hast auch dieses Jahr Gletscher gefressen und ganze Täler zerstört. Und du warst, betrachtete man ganz Europa, der heisseste seit Messbeginn. Wenns schiefläuft – und das scheint ziemlich sicher –, werde ich dich in einigen Jahrzehnten als kalt in Erinnerung haben. Denn du bist offenbar erst ein Vorgeschmack für das, was noch kommt.

Die Auswahl der Glaces wird kleiner

Doch spätestens seit dieser Woche, als ich das wohl letzte Mal das Seebad Enge aufsuchte, weiss ich, dass selbst du endlich bist. Als ich am frühen Morgen in den See stieg, zitterte ich erstmals, weil aus der Luft nicht mehr genügend Wärme kam. Die Auswahl der Gasparini-Cornets wird immer kleiner – die Sorten werden nicht mehr ersetzt. Am Tag zuvor, im Freibad Letzigraben, schloss der Bademeister um 18 Uhr die schattenspendenden Schirme. Man hält es jetzt gut in der Sonne aus.

Das Licht war um 18 Uhr so schön, wie es nur im September sein kann, golden und sanft, und ich spürte, dass ein neuer Zyklus begonnen hat.

Mich überkam eine Wehmut, die ich schon als Kind verspürte, als ich Herbstferien auf der Insel Elba verbrachte. Jeweils am zweitletzten Ferientag sammelte der Bademeister die Pedalos ein und fuhr mit einem Lastwagen davon. Er kam nicht zurück.

Gesteigert wurde diese Wehmut auf der Heimreise nach diesen Ferien, wenn ich nach einer Nacht in der Couchette aus dem Fenster blickte und die Gipfel in der Schweiz schon wieder weiss waren.

In Japan gibt es einen Ausdruck für die Saison-Wehmut

«Nagori» nennen die Japanerinnen und Japaner den Zustand (wörtlich «der Abdruck der Wellen»), wenn man von einer Saison Abschied nimmt. Im Ausdruck verbinden sich Bindung, Sehnsucht und Zeitlichkeit. Die Autorin Ryoko Sekiguchi hat ein wunderschönes Buch über Nagori verfasst. Der Zustand kann sich in Japan sogar auf Nahrung beziehen, also auf eine saisonale Frucht am Ende der jeweiligen Jahreszeit.

Hier wird Inhalt angezeigt, der zusätzliche Cookies setzt.

An dieser Stelle finden Sie einen ergänzenden externen Inhalt. Falls Sie damit einverstanden sind, dass Cookies von externen Anbietern gesetzt und dadurch personenbezogene Daten an externe Anbieter übermittelt werden, können Sie alle Cookies zulassen und externe Inhalte direkt anzeigen.

Auch Brigitte Bardot thematisiert dieses Abschiednehmen im Chanson «La Madrague»: «Der Zug bringt mich Richtung Herbst, ich finde meine Stadt im Regen vor, mein Kummer richtet sich an niemanden persönlich, ich behalte ihn für mich wie einen Freund», lautet eine Strophe. Und der Zürcher Kinderliedermacher Andrew Bond singt: «Summer adee. Danke tusig Mal und meh.» 

So wie ich dich kenne, lieber Sommer, kommst du nach dem Regen, der jetzt angekündigt ist, vielleicht sogar noch einmal zurück, wenn auch leiser. Ob die Gipfel diesen Herbst noch weiss werden?

Dieser Text ist am 7. September 2022 erstmals erschienen und erscheint hier in aktualisierter Form.