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Fragen an Hans Ulrich Obrist
Warum brauchen wir gute Erzählungen?

Wir brauchen Erzählungen, weil sie uns ein Zuhause geben, sagt der schweizerisch-koreanische Philosoph Byung-Chul Han. Eine solche Erzählung ist die Legende von Wilhelm Tell, hier gemalt von Francis Bourgeois (1753-1811).
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In meinem Leben gibt es viele Rituale, auch Leserituale. Eines dieser Leserituale besteht darin, jedes neu erschienene Buch des Philosophen Byung-Chul Han sofort zu kaufen und zu lesen. Han wuchs in Südkorea auf und studierte in Deutschland Philosophie und katholische Theologie. Längere Zeit lehrte er in Basel – er hat auch den Schweizer Pass – und zuletzt in Berlin, widmet sich nun aber seit einigen Jahren ausschliesslich seinen Büchern. Hans Interesse, seine Neugier und sein Wissen sind grenzenlos. Er schrieb über Globalisierung, über Macht und Tod, über den Duft und die asiatische Philosophie, über die Passionsgeschichte und die digitale Welt. Berühmt wurde er 2010 mit einem brillanten Essay über die «Müdigkeitsgesellschaft», in der er in kapitalistischen Gesellschaften einen systemisch bedingten Zustand der Erschöpfung diagnostizierte, als direkte Folge von Effizienzwahn und einem sich breitmachenden Gefühl der Sinnlosigkeit.

Er schrieb auch über das Ritual und über die verkannte Ressource der Untätigkeit, die dem Leben erst seinen Glanz gibt. Das war letztes Jahr. Dieses Jahr erschien sein Buch über die «Krise der Narration». Seine These ist, dass zwar «Storytelling» omnipräsent sei, in der Unterhaltungsindustrie, der Politik, den sozialen Medien, dass es dabei aber jeweils mehr um das «Storyselling» gehe, also eine finanzielle oder manipulative Absicht hinter der Geschichte. Die Folge sei eine narrative Krise, die für uns schnell existentiell werden könne. Denn der Mensch sei angewiesen auf Erzählungen: Die Narration, so Han, gebe uns das Gefühl, in einem zeitlichen Kontinuum zu sein; sie gibt uns Halt und einen Ort, sie erinnert uns an das, was war, und sie ist die Bedingung unserer Hoffnungen. Denn nur mutige, kraftvolle Geschichten können die Vorstellung einer Zukunft entwerfen, nach der wir uns sehnen, auf die wir uns freuen können. Und schliesslich stiftet die Erzählung auch ein Gefühl der Gemeinschaft.

Die Vereinsamung und Entkopplung des Einzelnen ist vielleicht das Thema, das hinter allen Werken Hans steht. Egal von welcher Seite er sich der Gesellschaft nähert und sie untersucht, immer geht es auch um die Frage, wie eine Gemeinsamkeit, wie ein Lebenssinn wiederhergestellt werden kann, der uns verloren ging. Han schreibt über die ganz grossen Themen, aber nicht in der Art eines akademischen Philosophen, sondern wie ein sehr kluger und fesselnder Erzähler. Ich freue mich schon auf sein nächstes Buch. Darin wird es um die Hoffnung gehen.

Byung-Chul Han: Die Krise der Narration. Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2023.

Hans Ulrich Obrist ist künstlerischer Direktor der Serpentine Galleries in London.