Fragen an Hans Ulrich ObristBringt Kunst Erleuchtung?
Unser Kolumnist schreibt über einen Universalgelehrten, der die Welt noch immer zum Erzittern bringt.
Vor ein paar Tagen besuchte ich eine eher ungewöhnliche Ausstellung in London. Gewidmet war sie zwar der Kunst, aber auch einem Wissenschaftler und Mystiker, der im 18. Jahrhundert zu den berühmtesten und einflussreichsten Forschern der westlichen Welt gehörte.
Emanuel Swedenborg, 1688 in Stockholm geboren, war ein Universalgelehrter und Ingenieur, Mathematiker und Philosoph, der bedeutende Schriften über Astronomie, Meteorologie und das System der Natur schrieb, bis, im Alter von sechsundfünfzig Jahren, eine Erleuchtung über ihn kam: Jesus selbst habe sich ihm offenbart und damit beauftragt, das Wort Gottes neu auszulegen und eine Verbindung zwischen der Welt der Menschen und jener der Geister herzustellen.
Ein zentraler Gedanke Swedenborgs war dabei die Idee der Tremulation. Er verstand darunter ein existentielles Zittern des Universums, das keine festen Unterscheidungen und Grenzen zulässt, weil alles immer in Bewegung ist.
Ich finde das einen faszinierenden Gedanken, und damit bin ich nicht allein. Jorge Luis Borges hat Swedenborg verehrt so wie Balzac, Dostojewski, C. G. Jung und viele bildende Künstlerinnen und Künstler. Zu ihnen zählt die berühmte schwedische Malerin Hilma af Klint. Sie ist in der Ausstellung, die im Haus der Swedenborg Society präsentiert wird, in Form einer digitalen Präsentation anwesend, ebenso wie Werke von Meret Oppenheim oder Marcel Duchamp. Auch in deren Werk kann man das grosse Zittern erkennen, eine metaphysische Durchlässigkeit, einen Möglichkeitsraum, der zwischen dem Sinnlichen und dem Übersinnlichen hin und her schwingt.
Diese Fluidität zwischen dem Wissenschaftlichen und dem Spirituellen war zu Swedenborgs Zeiten nicht ungewöhnlich. Für die Kunst ist diese Durchlässigkeit vielleicht sogar ganz allgemein ein Wesensmerkmal. Kuratiert hat die Ausstellung Daniel Birnbaum, wie Swedenborg ein Schwede und langjähriger Direktor des Moderna Museet in Stockholm. Birnbaum hat dort mit einer grossen Einzelausstellung und fast siebzig Jahre nach ihrem Tod Hilma af Klint international bekannt gemacht. Vielleicht gelingt es ja auch, Swedenborg wieder ins allgemeine Bewusstsein zu rücken, dessen Denken eine Bereicherung ist, auch wenn man sein Weltbild nicht teilt. Einen sehr empfehlenswerten Einstieg in sein Leben und Denken bietet Peter Ackroyd in seinem, leider nur auf Englisch erschienenen Buch «Introducing Swedenborg».
«Tremulations», kuratiert von Daniel Birnbaum und Jacqui Davies, bis 29. Juni im Swedenborg House London.
Hans Ulrich Obrist ist künstlerischer Direktor der Serpentine Galleries in London.
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