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Anfeindungen gegen Juden in der Schweiz
Wann ist Israel-Kritik anti­semitisch? Darüber streiten auch Jüdinnen und Juden

Solidaritätskundgebung für Palästina auf mehreren Plätzen in Bern. Waisenhausplatz.
Foto: Susanne Keller
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Die Aussage löste einen Sturm der Entrüstung aus: «Diese Situation der Apartheid zwischen uns – diese Ungleichheit – muss ein Ende haben.» Das sagte der israelische Filmemacher Yuval Abraham am Filmfestival Berlinale, als er zusammen mit dem Palästinenser Basel Adra für einen Film über die israelische Siedlungspolitik ausgezeichnet wurde. Dass ihm deswegen Antisemitismus vorgeworfen wurde, bezeichnete Abraham als «entsetzlichen Missbrauch» des Antisemitismusbegriffs. 

Ähnliches spielte sich bei der Oscar-Verleihung ab. Der britisch-jüdische Regisseur Jonathan Glazer wurde für seinen Film über Auschwitz ausgezeichnet. In seiner Dankesrede kritisierte er, dass das Jüdischsein und der Holocaust als Rechtfertigung für eine Besatzung gekapert würden. Sein Film zeige, wohin Entmenschlichung führen könne. Die Botschaft sei nicht «schaut, was sie damals getan haben», sondern «schaut, was wir heute tun». Glazer wird nun vorgeworfen, damit den Holocaust verharmlost zu haben.

Katastrophale Lage

Auch Schweizer Jüdinnen und Juden diskutieren kontrovers über die Frage, wann Kritik an Israel antisemitisch ist. Das Vorgehen Israels nach dem Terroranschlag der Hamas vom 7. Oktober hat in Gaza schon unzählige Zivilisten das Leben gekostet – gemäss Schätzungen mehr als 30’000. Die humanitäre Lage ist katastrophal. Dafür wird Israel kritisiert – auch auf antisemitische Weise.

Seit dem 7. Oktober hat der Antisemitismus zugenommen, besonders der israelbezogene: Der Antisemitismusbericht des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes (SIG) und der Stiftung gegen Rassismus (GRA) weist für das vergangene Jahr 227 Vorfälle dieser Kategorie aus – viermal mehr als im Vorjahr. 

SIG-Generalsekretär Jonathan Kreutner hat sich in seiner Dissertation auch mit der Frage befasst, wann Israel-Kritik antisemitisch ist. Er sagt: «Es gibt klare Fälle, und es gibt einen Graubereich.» Der SIG gehe vorsichtig mit dem Antisemitismusvorwurf um. Er zähle nur eindeutige Fälle. Die Apartheid-Aussage an der Berlinale erachtet Kreutner als deplatziert, aber nicht antisemitisch. 

Klar antisemitisch ist Israel-Kritik laut Kreutner dann, wenn klassische antisemitische Stereotype über Israel gestülpt werden – «wenn Israelis zum Beispiel als blutrünstige Monster dargestellt werden, die gerne Kinder töten». Antisemitisch sei es auch, alle Juden mit Israelis gleichzusetzen, Israel mit Nazi-Deutschland zu vergleichen oder Israel zu unterstellen, die Weltherrschaft anzustreben. Ebenfalls klar antisemitisch sei der Slogan «From the river to the sea, Palestine will be free». Denn mit der Forderung nach einem freien Palästina zwischen dem Fluss Jordan und dem Mittelmeer werde dem jüdischen Staat faktisch das Existenzrecht abgesprochen. 

«Reflexartig und obsessiv»

Der SIG und die GRA stützen sich auf die Antisemitismus-Definition der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA). Diese ist breit abgestützt, aber nicht unumstritten. Der Verein «Jüdische Stimme für Demokratie und Gerechtigkeit in Israel/Palästina» (JVJP) bevorzugt eine andere Definition.

Around 200 palestinians take part in a pro-Palestinian demonstration in front of the government building in Bern, Switzerland, Thursday, April 4, 2002. (KEYSTONE/Alessandro della Valle)

In einem neuen Positionspapier zeigen sich die Jüdinnen und Juden des Vereins besorgt über den «zunehmend inflationären Vorwurf des Antisemitismus im Zusammenhang mit Kritik an der israelischen Politik». Die IHRA-Definition betone israelbezogenen Antisemitismus und sei «zu einem politischen Mittel geworden, Kritik am Staat Israel und an der israelischen Politik dem Generalverdacht des Antisemitismus zu unterstellen».

Diffamierungen dienten dazu, «menschenverachtende und völkerrechtswidrige israelische Politik» gegen Kritik zu immunisieren, heisst es im Positionspapier. Und: «Die reflexartige und obsessive Verurteilung von Aussagen als antisemitisch durch den Staat Israel und andere ist nicht hilfreich, sondern hinderlich für eine Reflexion von Antisemitismus und dessen Bekämpfung.» 

Opfer und Täter

Vor allem linke Kritik an Israel werde immer häufiger als Antisemitismus gebrandmarkt, stellt der Verein fest. Sein Positionspapier enthält freilich auch Kritik an Linken. Manche pflegten eine Sicht, wonach die Welt in Opfer und Täter, in Unterdrücker und Unterdrückte aufgeteilt sei. «Sie identifizieren sich mit Unterdrückten, deren Ideologien und Methoden im Kampf gegen die Unterdrückung sie nicht reflektieren – ob in Lateinamerika, Afrika oder eben in Palästina.» 

So hätten sich viele Linke nicht dazu durchringen können, den Anschlag vom 7. Oktober mit deutlichen Worten zu verurteilen. Die JVJP distanziert sich von Menschen und Organisationen, die die Hamas-Angriffe als legitimen Widerstand verharmlosen. Genauso distanziert sie sich aber von Menschen und Organisationen, die «die Flächenbombardierungen und den Tod von Zehntausenden Zivilisten als legitime Selbstverteidigung Israels ansehen». 

Eine Frage des Kontextes

Den Slogan «From the river to the sea, Palestine will be free» hält der Verein nicht in jedem Fall für antisemitisch. Es komme auf die Absicht dahinter an, schreibt er. Wenn damit die Schaffung eines einheitlichen demokratischen Staates für alle Bewohner des Landes gemeint sei, sei der Slogan – der auch in Israel skandiert werde – nicht antisemitisch. Wer diesen Slogan verwende, sei aber aufgefordert, die Vision dahinter zu kommunizieren.

Brigitta Rotach, Co-Präsidentin der Jüdisch-Liberalen Gemeinde, sieht es ähnlich. Solidarität mit Israel könne verschieden aussehen, sagt sie. «Israel-Kritik muss erlaubt sein.» Kritik an der israelischen Regierung sei auch in Israel und in der jüdischen Bevölkerung verbreitet – «man erinnere sich an die riesigen Proteste gegen die Regierung Netanyahus vor dem 7. Oktober». Werde die Kritik unterdrückt, bestehe die Gefahr, dass die Debatte erst recht ins Antisemitische kippe. Aber: «Man muss präzise sein und auch sagen, was man nicht meint.» So könne etwa der Slogan in einer anderen Version  – «From the river to the sea, all people should be free» – gar eine Friedensvision transportieren. Genau deshalb seien Dialog und Austausch so wichtig. 

Einig sind sich die Organisationen darin, dass oft der Kontext eine Rolle spielt. Apartheid- oder Genozid-Vorwürfe an Israel könnten je nach Kontext antisemitisch sein, sagt Kreutner. Nämlich dann, wenn die Absicht sei, den Staat Israel zu delegitimieren. Dasselbe gelte für den Vorwurf von Kriegsverbrechen. Hier komme es darauf an, ob man in anderen Kriegen denselben Massstab anwende. Die JVJP plädiert deshalb dafür, Verletzungen der Menschenrechte und des Völkerrechts aller Seiten zu benennen – und Empathie mit allen Opfern einzufordern.