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Sexueller Missbrauch im Kloster
«Ich versuchte, zu schreien» – Jetzt fällt im Wallis die Mauer des Schweigens

Une vue de l'Abbaye de Saint-Maurice le mercredi 22 novembre 2023 a Saint-Maurice. (KEYSTONE/Jean-Christophe Bott)
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1500 Jahre alt ist die Abtei Saint-Maurice im Unterwallis. Damit ist sie das älteste durchgehend bewohnte Kloster des Abendlandes. 1500 Jahre Ruhe und Abgeschiedenheit. Doch es brauchte nur 15 Minuten, um das Seelenheil der Augustiner-Chorherren nachhaltig aus der Balance zu bringen.

15 Minuten nur dauerte die Reportage der RTS-Sendung «Mise au Point», die an den letzten beiden Wochenenden aufdeckte, wie sich Kleriker des Augustinerordens in den vergangenen Jahrzehnten an Kindern und Jugendlichen vergangen hatten. Die Recherche machte deutlich: Die Justiz ging den Fällen selbst nach Strafanzeigen kaum auf den Grund. Mutmassliche Delikte wurden totgeschwiegen. 

Zu Übergriffen kam es an religiösen Festen im privaten Rahmen. Es gab sie auch im Umfeld der von der Abtei Saint-Maurice geleiteten Klosterschule (Kollegium), insbesondere aber in deren Internat.

Le chanoine Antoine Salina parle lors d'une conference de presse de l'Abbaye de Saint-Maurice apres les revelations de la RTS sur des cas d'abus sexuels qui auraient ete commis par des chanoines de l'institution le jeudi 23 novembre 2023 a Bex. (KEYSTONE/Jean-Christophe Bott)

Mit den Recherchen und Vorwürfen konfrontiert, erschien aus dem Augustinerorden zunächst niemand vor der RTS-Kamera. Erst vier Tage nach Ausstrahlung der ersten Reportage, nach Eröffnung eines Justizverfahrens und der Konfiszierung von Dokumenten und Archivmaterial in der Abtei luden die Chorherren zu einer Medienkonferenz.

Für ein «mea culpa» schickten sie einen der ihren vor die Mikrofone. «Das Kloster bittet alle Opfer, die Machenschaften gewisser Mitbrüder des Augustinerordens zu entschuldigen», sagte Ordensbruder Antoine Salina, der einst für den Internatsbetrieb verantwortlich war, sichtlich aufgewühlt. Man habe «ein Auge geschlossen» (um Probleme zu ignorieren); man habe «gewisse Mitbrüder an andere Orte versetzt» (um Probleme aus der Welt zu schaffen); man habe «keine Wellen mit schlechten Neuigkeiten gewollt» (um nicht mit Problemen konfrontiert zu sein), führte er aus. 

Was er nicht sagte: Im Wallis haben Kirche und Staat versagt.

Eine mutige Frau erinnert sich

Mélanie Bonnard ist eine jener couragierten Walliserinnen und Walliser, die sich RTS anvertrauten. Sie wagte es, «die Eiterblase anzustechen», wie sich Peter Bodenmann, ehemaliger Regierungsrat und Präsident der SP Schweiz, in seiner jüngsten Kolumne im «Walliser Boten» ausdrückte. 

Mélanie Bonnard schildert, wie sich 2004 im Haus ihrer Familie ein Augustinermönch an ihr vergangen hatte. Sie sei 12-jährig gewesen, «also noch ein Kind», so die Unterwalliserin. Der Geistliche aus dem Kloster sei nach der Taufe ihres kleinen Bruders auf Einladung ihrer Eltern zum Essen zu ihnen nach Hause gekommen.

«Ich versuchte zu schreien, aber es war so, als hätte ich meine Stimme verloren.»

Mélanie Bonnard, Missbrauchsopfer

Die Walliserin schildert ihre Erinnerungen so, als hätte sie den Übergriff gestern erlitten. «Er sass auf dem Sofa. Ich wollte vorbeigehen. Da fasste er mich mit einem Arm und begann mich mit dem anderen Arm zu berühren. Er griff unter mein blaues Oberteil an meine Brust und danach weiter unter den Jupe, wo er die Finger in die Unterhose steckte. Ich habe versucht zu schreien, aber es war so, als hätte ich meine Stimme verloren. Ich brachte keinen Ton heraus. Ich verpasste ihm einen Schlag in den Unterleib, um mich zu wehren.»

Sie habe die Mutter überzeugen müssen, eine Klage einzureichen, so Mélanie Monnard. Ein von der Justiz eingesetzter Psychiater habe an ihrer Glaubwürdigkeit gezweifelt, während der Geistliche alle Anschuldigungen von sich wies. Die Strafuntersuchung wurde in der Folge eingestellt.

Der Fall des Gymnasiasten Jérôme

Auch im Internat der Klosterschule kam es zu dokumentierten Übergriffen. Die RTS-Recherche leuchtet exemplarisch den Fall des Gymnasiasten Jérôme aus, an dem sich 1997 ein Chorherr vergangen haben soll. 

Jérômes Mutter versichert, den Geistlichen bei der Polizei angezeigt zu haben. Die Polizei sei zu einem Gespräch zu ihnen nach Hause gekommen – aber ohne Psychologen. Den Geistlichen habe ein Untersuchungsrichter befragt. 

Für den Geistlichen habe es eine «Verwarnung gegeben», an der Klosterschule unterrichtete er weiterhin, so die Mutter. Spuren der Strafanzeige fand RTS bei den Recherchen nicht, obwohl die Mutter bezeugte, Anzeige erstattet zu haben. 

Ein Jahr nach dem Übergriff auf Jérôme wurde der Ordensbruder dennoch verurteilt: von der Walliser Justiz, für Pädophilie, zu einem bedingten Freiheitsentzug von 15 Monaten. Dem Geistlichen war ein Übergriff im Ausland nachgewiesen worden, worauf man ihn in seinem Heimatkanton bestrafte. Im Urteil sei explizit vermerkt, dass es im Wallis keine Opfer gegeben habe, heisst es in der Reportage von RTS.

Das Wallis hat per 1. Januar 2022 die Klosterschule in Saint-Maurice übernommen. Hier unterzeichnen der Walliser Bildungsdirektor Christophe Darbellay (links) und der interimistisch abgesetzte Abt Jean Scarcella (Mitte) die Verträge.

Das Kloster von Saint-Maurice scheint nicht nur ein durch die Walliser Behörden gut geschützter Ort zu sein. Schutz bietet auch die Natur. Das Kloster wurde vor einer vertikal aufschiessenden, nackten Felswand gebaut. Der Turm der Klosterbasilika ragt weit in den Himmel, so als würde er die Naturgewalt der Felswand überragen. Vom Klosterleben ist von aussen nichts zu sehen. Neben dem Kloster steht das Internatsgebäude. Neben dem Internat wiederum ein weitläufiger, moderner Schulhausbau, in dem das Gymnasium untergebracht ist.  

Die Walliser Kantonsregierung anerkannte die Mittelschule im Jahr 1806 offiziell. Aber erst per 1. Januar 2022 übernahm das Erziehungsdepartement die Schulleitung. Das Internat wurde schon 2021 geschlossen. Die Schule ist heute eigentlich eine profane Institution. Geblieben sind ein Kruzifix in jedem Klassenzimmer und religiöse Insignien im Signet der Schule, ebenso der sakrale Name: Lycée-Collège de l’Abbaye de Saint-Maurice. Heute unterrichten noch drei Geistliche an der Schule, darunter der Rektor der Schule, ein Mathematiklehrer. Er musste nach den Enthüllungen über die Missbrauchsfälle von seinem Posten zurücktreten, vorläufig, wie es heisst.

Auf einmal ist alles anders

Das Ordensleben in Saint-Maurice ist heute nicht mehr, wie es im Sommer noch war. Mitte September trat Abt Jean Scarcella bis auf weiteres in den Ausstand. Auslöser war die Studie der Historikerinnen der Universität Zürich rund um sexuelle Missbrauchsfälle im Umfeld der katholischen Kirche in der Schweiz seit der Mitte des 20. Jahrhunderts.

Scarcella wird des sexuellen Missbrauchs und der Vertuschung beschuldigt, dies im Kontext der von der Schweizer Bischofskonferenz angeordneten Voruntersuchung. Der Prior des Klosters, der auch am Gymnasium unterrichtet, ersetzte Scarcella als Interimsabt. Nach den neuesten RTS-Enthüllungen ist nun auch der Prior als Interimsabt zurückgetreten. Er wird beschuldigt, 2003 einen Novizen missbraucht zu haben.

«Mehr als ein Dutzend Personen haben sich bei den Strafverfolgungsbehörden gemeldet.»

Communiqué der Walliser Justiz

Die strafrechtliche Aufarbeitung der Übergriffe durch Kleriker ist nun auch im Wallis in Gang gekommen. «Mehr als ein Dutzend Personen haben sich bei den Strafverfolgungsbehörden gemeldet, um sie über mögliche Missbräuche im Zusammenhang mit der Abtei Saint-Maurice oder dem kirchlichen Umfeld zu informieren», teilte die Justiz am Mittwoch mit. Jede Anzeige werde berücksichtigt. Die Verfasser würden «systematisch von der Kantonspolizei kontaktiert».

Gemäss Darstellung von RTS wurden aufgrund der Enthüllungen gegen neun Chorherren Missbrauchsvorwürfe erhoben. Fünf dieser neun Herren leben noch immer. Ein Chorherr hat sich inzwischen selbst angezeigt.

Bildungsdirektor Christophe Darbellay beauftragte eine Arbeitsgruppe mit einer Untersuchung, «um die Auswirkungen der Enthüllungen auf den Betrieb des Kollegiums zu bewerten und Massnahmen vorzuschlagen, mit denen die Qualität, der Fortbestand und die Sicherheit der Einrichtung gewährleistet werden können». Die ehemalige Neuenburger Bildungsdirektorin Monika Maire-Hefti präsidiert die Gruppe. Ihr gehören aber auch viele Experten aus Darbellays Departement an. 

«Unter den Talaren der Augustiner von Saint-Maurice ist der Muff von sexualisierter Gewalt gang und gäbe.»

Peter Bodenmann, Briger Hotelier und ehemaliger SP-Staatsrat

Der ehemalige Staatsrat Peter Bodenmann hat sein Urteil heute schon gefällt: «Der Staatsrat stellte sich ohne Wenn und Aber hinter die katholische Kirche. Er machte sogar die Missbrauchsopfer für ihr Schicksal mitverantwortlich.» Bodenmann schreibt in seiner Kolumne: «Unter den Talaren der Augustiner von Saint-Maurice ist der Muff von sexualisierter Gewalt gang und gäbe.»

Christophe Darbellay verteidigt die Expertengruppe. «Es handelt sich nicht um eine Untersuchungskommission. Diese Arbeit macht die Justiz», teilt er via eine Sprecherin mit. Es gehe darum, die Imageschäden zu bewerten und Massnahmen zu erarbeiten, um das Vertrauen in die Bildungsinstitution wiederherzustellen. Abgesehen davon gehe es auch darum, «Vereinbarungen und Beziehungen zwischen Staat und Kirche zu überdenken, um die aktuellen Realitäten besser widerzuspiegeln, Wege für eine effektive Zusammenarbeit zu finden und dabei den Laizismus und die religiöse Vielfalt zu respektieren».

Opfer stellt den Peiniger

Eine erste vertrauensbildende Massnahme hätte sein können, die Eltern der Gymnasialschüler über die erhobenen Vorwürfe und die Situation an der Schule zu informieren. Stattdessen verschickte das Rektorat den Schülerinnen und Schülern eine Mail mit der Botschaft, die Schulleitung habe sich nichts vorzuwerfen. Einzelne Lehrpersonen haben die Situation im Unterricht dennoch von sich aus angesprochen.

«Ich war innerlich tot. Ich wollte selbst für Gerechtigkeit sorgen.»

Mélanie Bonnard, Missbrauchsopfer

Missbrauchsopfer Mélanie Bonnard liess der Übergriff, den sie als 12-Jährige erleiden musste, auch im Erwachsenenalter keine Ruhe. «Ich war innerlich tot. Ich wollte selbst für Gerechtigkeit sorgen», sagt sie. 2016 halfen ihr Freunde, eine versteckte Kamera an einen Schlüsselbund zu montieren. Mit der Kamera an ihrer Handtasche und unter falschem Namen und falschen Angaben traf sie den Chorherrn, der sich an ihr vergriffen hatte, zu einem Gespräch.

Auf dem Video ist zu hören und zu sehen, wie sie dem Geistlichen die Szene so schildert, wie sie sie als 12-Jährige erlebt hat. «Ich bin kein Psychologe, aber das scheint mir nicht allzu schlimm zu sein. Es war keine Vergewaltigung», antwortet der Mann, worauf Mélanie Bonnard ihm ihre wahre Identität nennt, ihr damals getragenes Röckchen aus der Tasche zieht und es ihm übergibt. «Erinnern Sie sich nicht an mich?», fragt sie. «Nein», sagt der Geistliche, als hätte es da nie etwas gegeben.