Präsidentenwahlen in den USAWahlkampf aus dem Homeoffice
Präsidentschaftskandidat Joe Biden sitzt in seinem Haus in Delaware und schaut zu, wie sich Donald Trump um Kopf und Kragen redet. Für den Demokraten könnte es schlechter laufen.
Jemand hat das Regal aufgeräumt. Vor ein paar Wochen war es noch ziemlich unordentlich. In den Fächern standen, lagen und lehnten Dutzende Bücher, dazwischen klemmten ein paar Fotos, die nicht wichtig oder schön genug waren, um sie an eine Wand zu hängen. Und in die rechte obere Ecke war ein rotbrauner Football gestopft. Das Regal sah aus, wie Regale eben aussehen, wenn man sie benützt, um darin Sachen aufzubewahren, und sich dann über die Jahre allerlei sentimentaler Krimskrams in ihnen ansammelt.
Jetzt ist das Regal picobello. Das Bücherchaos wurde beseitigt. Stattdessen sieht man nur noch die akkurat ausgerichteten, dunklen Rücken eines mehrbändigen Werkes, vielleicht einer Enzyklopädie. Der Football hat ein eigenes Fach bekommen, die weisse Naht leuchtet dezent. In ein anderes Fach wurde eine US-Flagge drapiert. Das Regal ist nun kein Gebrauchsmöbel mehr, sondern eine Kulisse.
Das ist Absicht. Denn das Wichtigste an dem Regal, das im Keller eines Hauses in der Stadt Wilmington im Bundesstaat Delaware steht, ist nicht, was sich darin befindet. Das Wichtigste ist, wer davor sitzt: Joe Biden, 77 Jahre alt, einst Senator und Vizepräsident der USA, jetzt Kandidat der Demokraten für die Präsidentschaftswahlen im kommenden November.
Der alte Mann und die Technik
Das Coronavirus hat die US-Politik hart getroffen. Es hat den Amerikanern mit brutaler Wucht gezeigt, von was für einem ignoranten, erratischen, egomanischen und mitleidlosen Angeber sie regiert werden. Man könnte es so sagen: Um es ohne katastrophalen Schaden durch die Pandemie zu schaffen, bräuchte Amerika dringend einen anderen Präsidenten.
Doch das Virus macht es zugleich schwerer, diesem Ziel näherzukommen. Sehr viele Dinge, die sonst in den letzten sechs Monaten eines Wahlkampfs passieren, sind jetzt wegen der Ansteckungsgefahr nicht mehr möglich. Weil also die Welt draussen wegen des Virus gesperrt ist, muss Biden seinen Wahlkampf seit einigen Wochen von drinnen führen. Dazu hat er sich den Keller seines Hauses in Wilmington, Delaware, ausgesucht. Bidens erste Auftritte im Keller klappten nicht so gut: Die Internetverbindung in seinem Haus war zu langsam, das Bild war pixelig und ruckelte, gelegentlich blieb der Ton weg. Das hat dem Präsidentschaftskandidaten reichlich Häme eingebracht.
Regal mit Flagge, Football und Familienfotos
Und dann meldete sich im März auch noch wie aus dem Nichts eine Frau namens Tara Reade zu Wort, die in Kalifornien lebt und Anfang der 1990er-Jahre in Bidens Washingtoner Senatsbüro gearbeitet hat. Sie wirft Biden vor, sie 1993 in einem Flur im Capitol sexuell bedrängt zu haben. Biden habe ihr unter den Rock gefasst, sagt Reade. Die Beweislage ist unklar, Biden bestreitet die Beschuldigungen, und abgesehen von einigen verbitterten Bernie-Fans haben sich alle wichtigen Demokraten und Demokratinnen schützend um ihren Kandidaten geschart. Aber für einige Wochen waberte im Frühjahr die Angst durch die Partei, dass Donald Trump in diesem Wahlkampf einfach über Joe Biden hinwegwalzen könnte.
Inzwischen läuft es besser. Biden hat sich in einer Ecke seines Kellers ein Fernsehstudio einbauen lassen, mit einem Teleprompter und ordentlichen Mikrofonen, Scheinwerfern und einer professionellen Kamera, damit das Bild scharf ist und Ton und Licht stimmen. Dort sitzt er dann an einem Schreibtisch, schaut auf einen Laptop und schwatzt mit allerlei Gästen, die daheim vor Laptops sitzen oder auf Handys schauen. Und hinter Biden ist das neu einsortierte Regal zu sehen – mit Flagge, Football, Familienfotos. Aber nicht zu vielen Büchern.
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Ob Biden Trump im November schlagen kann, wird am Ende allerdings keine technische Frage sein, sondern eine politische. Es ist ja nicht so, als sei Wahlkampf im Internet etwas völlig Neues. Barack Obama und Donald Trump haben in den vergangenen Jahren sehr erfolgreich, wenn auch auf sehr unterschiedliche Weise, vorgemacht, wie man Wähler mithilfe des Netzes findet, einfängt und dazu bringt, am Wahltag ihre Stimme abzugeben. Dass ein Kandidat den Bürgern nur noch am Bildschirm begegnet, gab es bisher zwar nicht. Aber daran werden sich die Leute jetzt, da sie ohnehin ständig in Zoom-Sitzungen hocken, wohl gewöhnen.
Viel wichtiger wird sein, ob die Wähler Joe Biden für den richtigen Kandidaten halten. Für den Mann, der das Wissen, das politische Geschick und vor allem den Charakter hat, um die leidende Nation durch das Corona-Desaster zu führen. Amerika kämpft einen verzweifelten Kampf gegen das Virus. Und das Virus wird Amerika in den kommenden Monaten noch sehr viel Schmerz zufügen.
«Wenn Biden im Keller sitzt, dann ist auch die Gefahr geringer, dass er Fehler macht.»
«Trump wird natürlich versuchen, alle Schuld von sich zu schieben, wie solche Schmalspurautokraten das halt tun», sagt ein Demokrat, der schon etliche Präsidentschaftswahlkämpfe mitgemacht hat: «Aber er kann all die Toten, all die Arbeitslosen und seine Verantwortung dafür nicht einfach weglügen.»
Wenn das stimmt, dann ist der Kellerwahlkampf, zu dem das Virus Biden zwingt, vielleicht gar kein grosses Unglück, im Gegenteil. «Wenn Biden im Keller sitzt, dann ist auch die Gefahr geringer, dass er Fehler macht», sagt ein Politikberater, der den Demokraten nahesteht. Biden ist kein packender Redner, er verhaspelt sich oft, verliert den Faden, verwechselt Menschen und Orte. Und manchmal erzählt er Anekdoten, die nicht stimmen.
Wahlkampfreden zu halten, sei eine Sache, kompetent regieren zu können, eine andere, sagt ein anderer Demokrat, der Jahrzehnte für Biden gearbeitet hat und so gut mit ihm befreundet ist, dass er ihn «Joe» genannt hat, wenn sie alleine waren, nicht «Senator» oder «Mr. Vice President». «Zwischen Biden und Trump besteht kein ernsthafter Wettbewerb», sagt der Weggefährte Bidens. «Selbst wenn bei Bidens Motor von zwölf Zylindern einer ausgefallen ist, läuft er immer noch besser als Trumps. Der hat nur einen Zweitakter.»
Den Gegner Fehler machen lassen
Tatsächlich schlägt sich Trump alles andere als grossartig. Die Zahl der Toten und Arbeitslosen steigt, und von ihrem Präsidenten hören die verunsicherten Amerikaner ausser Selbstlob und der wirren Idee, den Corona-Kranken Desinfektionsmittel zu injizieren, wenig. Insofern ist es verständlich, dass Biden derzeit lieber leise auftritt. Eine alte Washingtoner Weisheit besagt, dass man seinen Gegner nicht stören soll, wenn dieser gerade Selbstmord begeht.
Es ist kein Zufall, dass Bidens Wahlkampfteam damit begonnen hat, alle paar Tage Wahlwerbespots ins Internet zu stellen, in denen es die bizarrsten Momente und Zitate von Trumps Auftritten zusammenschneidet. Dann ist etwa der Präsident zu sehen, wie er davon redet, dass das Virus bald wieder verschwinden werde, «wie durch Magie». Solche Filmchen werden die harten Trump-Fans nicht erweichen. Aber bei einigen Senioren in Florida wachsen, wenn sie so etwas sehen, vielleicht die Zweifel am Präsidenten. Ganz zu schweigen von den Millionen Mittelschichtmüttern in den Vororten, deren Stimmen die Demokraten brauchen.
Biden hat einen grossen Vorteil: Die Amerikaner wissen, wer er ist. Er war Senator und Vizepräsident, er gehört seit 40 Jahren zum politischen Inventar des Landes. Die Amerikaner wissen, dass Biden seine erste Frau und seine Tochter bei einem Autounfall verloren hat und einer seiner Söhne an einem Gehirntumor gestorben ist. Biden hat über seinen Schmerz und seine Trauer immer offen gesprochen, und er hat immer Mitleid für Menschen gezeigt, die Schmerz und Trauer ertragen mussten. «Man sollte nicht unterschätzen, welche Kraft Mitleid haben kann», sagt der Demokrat. «Dieses Land wird im November schwer verwundet sein. Trump wird vollkommen unfähig sein, damit umzugehen. Aber Biden kann das.»
«Joe ist ein zäher Kerl, der wird nicht zusammenklappen.»
Das klingt gut. Aber sagt es etwas darüber aus, wer die Wahl gewinnen wird? Vermutlich nicht. Irgendwann, das wissen alle, wird Joe Biden aus seinem Keller kommen müssen. Und dann wird ihn ein gewaltiger Hagelsturm aus Gemeinheiten, Gerüchten, Unterstellungen, Verleumdungen und Lügen treffen. Trump kann sich ausrechnen, dass er im November mit seiner eigenen politischen Bilanz nicht gewinnen kann. Das Virus hat schon jetzt mehr Amerikaner getötet, als in Vietnam gefallen sind. So viele Menschen sind arbeitslos wie seit der Grossen Depression nicht mehr. Trump kann nur siegen, wenn er Biden demontiert.
Bidens alter Freund, der ihn Joe nennen darf, hofft, dass der Kandidat die Attacken von Trump übersteht. Er hofft es für Amerika, das er liebt und um das er fürchtet. Und er hofft es für Biden. «Joe ist ein zäher Kerl, der wird nicht zusammenklappen», sagt er. «Immerhin war er in der Highschool ein ziemlich guter Football-Spieler.» Der Beweis, rotbraun mit weisser Naht, liegt in einem Regal in einem Keller eines Hauses in Wilmington, Delaware.
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