Wahlen im Herbst 2023Vom Judokämpfer bis zur Cellistin: Die überraschendsten Kandidierenden
Noch nie haben sich so viele Personen für einen Sitz im Nationalrat beworben. Darunter finden sich auch Prominente und Quereinsteiger.
Rund 5000 Kandidierende bewerben sich um einen der 200 Sitze im Nationalrat – ein neuer Rekord. Darunter befinden sich etablierte Politikerinnen und Politiker, aber auch viele Neulinge. Wir stellen elf Kandidierende vor, die nicht unbedingt die besten Wahlchancen haben, aber dennoch hervorstechen.
Die Islamismuskritikerin
Saïda Keller-Messahli war bisher bekannt als Expertin für Islamismus. Es gab Zeiten, da fehlte die gebürtige Tunesierin in keiner Diskussionssendung über Islamisten und Hassprediger. Sie ist Gründerin des Forums für einen fortschrittlichen Islam. Nun kandidiert die 66-Jährige im Kanton Zürich auf der Liste «Ethische Unternehmerinnen und Führungskräfte». Keller-Messahli dient als Zugpferd und wurde auf den ersten Listenplatz gesetzt. Trotzdem sind ihre Wahlchancen gering. Sie könnte allerdings der EVP, mit der eine Listenverbindung besteht, zu einem Sitz verhelfen.
Der Schriftsteller
Peter Stamm gehört zu den bedeutendsten Schweizer Schriftstellern der Gegenwart. Er ist aber auch ein Naturfreund und Grüner der ersten Stunde. Regelmässig lässt er sich im Kanton Zürich auf Wahllisten setzen, um für die Grünen Stimmen zu holen. Seine eigenen Wahlchancen sind indes gering. Der 60-Jährige sieht sich nicht als mustergültiger Grüner. Er besitzt ein Auto, fährt aber möglichst wenig. Er verzichtet nicht völlig auf Ferienflüge und isst auch ab und zu Fleisch. Denn aus seiner Sicht sind nicht nur jene grün, die absolut konsequent leben. Auch ein Autofahrer könne sich überzeugt für höhere Treibstoffabgaben einsetzen.
Die Nonbinären
Sofia Fisch und Jakub Walczak teilen sich keinem Geschlecht zu. Auf dem Formular des Bundes, auf dem sie ihre Nationalratskandidatur einreichten, gibt es jedoch nur die Optionen weiblich oder männlich. Ohne Geschlechtsangabe ist die Anmeldung ungültig. Beide politisieren bei den Juso: Fisch sitzt im Berner Stadtparlament, Walczak präsidiert die Juso der Stadt Bern. Auch die SP führt im Kanton Bern noch immer eine Männer- und eine Frauenliste, allerdings wurden die Listen mit dem Zusatz «queer» ergänzt. Walczak und Fisch wollen mit ihrem politischen Engagement erreichen, dass das binäre Geschlechtermodell aufgelöst wird. Es gehe nicht darum, sich mit einem Minderheitsanliegen zu profilieren, sondern die Anliegen nonbinärer Personen ins Parlament und in die Gesellschaft zu tragen, sagt Walczak.
Wie der Vater so der Sohn
Häufig grenzen sich die Kinder politisch von ihren Eltern ab. Bei Flavio Bortoluzzi kann man jedoch getrost sagen, dass er sich in den Fussstapfen seines Vaters Toni bewegt. Der 46-Jährige ist bei der SVP, gelernter Schreiner, hält nichts von der EU und sieht sich als Gewerbevertreter. Nur hat es Flavio Bortoluzzi von Affoltern am Albis ZH vor 20 Jahren in die Westschweiz verschlagen, nach Muntelier bei Murten. Er ist Verwaltungsratspräsident und Mitinhaber einer Schreinerei mit über 50 Angestellten. Für die SVP will er den 2019 verlorenen zweiten Freiburger Sitz zurückholen.
Die Frau des Kugelstössers
Nadja Günthör posiert auf ihrer Wahlwebsite auf dem Motorrad, im Hintergrund glänzt der Bielersee. Seit bald 40 Jahren lebt die Thurgauerin im Berner Seeland, seit 30 Jahren ist sie mit dem besten Kugelstösser verheiratet, den die Schweiz je hatte. «Manchmal werde ich gefragt, ob ich Werner Günthörs Tochter sei, was mich natürlich ehrt», sagt die 58-Jährige lachend. Sie war selber Leichtathletin und Volleyballerin, begleitete Werner Günthör während seiner Sportkarriere. «Nun begleitet er mich bei meiner Arbeit», sagt sie. Sie sitzt seit zwei Jahren im Berner Grossen Rat und empfiehlt sich als lösungsorientierte Politikerin. Polarisieren sei nicht ihre Sache. Sie arbeitet in der Lehrlingsausbildung. Wichtige politische Anliegen seien der Erhalt des dualen Bildungssystems und die Sportförderung. Da drei der Berner SVP-Sitze durch Rücktritte frei werden, rechnet sich Nadja Günthör intakte Wahlchancen aus.
Der Massnahmenkritiker
Er wolle gegenüber der Landesregierung «so lästig sein wie eine Stechmücke», sagt der St. Galler Journalist Stefan Millius. Für den Corona-Massnahmenkritiker geht es um nichts weniger als die Rettung der Demokratie. Millius kandidiert auf der Liste der «Bürgerrechtsbewegung Aufrecht». Sein Narrativ: 246 gewählte Politikerinnen und Politiker hätten dem Land in der Corona-Zeit Schäden zugefügt, die noch lange nachwirken würden. Bei den kommenden Wahlen gelte es nun, sich die Schweiz zurückzuholen, den Totalschaden zu beheben. Millius begann seine journalistische Karriere vor über 30 Jahren beim «Neuen Wiler Tagblatt», ging dann zum St. Galler Radio Aktuell, landete später beim «Blick» und schreibt nun für die «Weltwoche» und in seinem Blog.
Die Cellistin
Vor der Pandemie war die Genferin Estelle Revaz ausserhalb der Klassik-Szene kaum bekannt, obwohl die Cellistin weltweit auftrat. Als der Konzertbetrieb während Corona stillgelegt wurde, setzte sich Revaz für die Interessen der Kulturschaffenden ein. Sie verfasste Manifeste, gelangte an Bundespolitikerinnen und -politiker, trat am Fernsehen auf. Mit ihrem Engagement trug sie massgeblich dazu bei, dass die Kulturschaffenden bei den Corona-Entschädigungen nicht vergessen gingen. Die Interessen der Kultur will sie nun im Nationalrat vertreten. Die Genfer SP nominierte sie mit dem zweitbesten Resultat für die Nationalratsliste. Da allerdings die bisherigen SP-Vertreter des Kantons erneut antreten, ist die 34-Jährige nur Aussenseiterin.
Der Judoka
Vor 15 Jahren gewann Sergei Aschwanden an den Olympischen Sommerspielen in Peking im Judo die Bronzemedaille im Mittelgewicht. Aschwanden brauchte drei Anläufe, um bei den Olympischen Spielen aufs Podest zu gelangen. Nun könnte dem 47-jährigen FDP-Politiker beim zweiten Anlauf der Sprung in die nationale Politik gelingen. Bereits 2015 kandidierte er in der Waadt für den Nationalrat, verpasste die Wahl aber knapp. Mittlerweile sitzt er im Kantonsparlament und hat gute Chancen, einen der Bisherigen zu verdrängen. Zu seinen politischen Themen zählen die Sport- und die Tourismusförderung. In seinem Kanton präsidiert er ein Initiativkomitee, das für die kantonale Sportförderung einen jährlichen Beitrag von einem Prozent der Kantonsausgaben verlangt. Der Sohn eines Urners und einer Kenianerin verbrachte die ersten Kindheitsjahre in Bern, zog danach in die Nähe von Lausanne.
Der Ökofeminist
Mit den langen Haaren, dem gepflegten Bart und den farbigen Fingernägeln unterscheidet sich Marius Diserens vom klassischen Erscheinungsbild der meisten Politiker. Vor zwei Jahren schaffte der LGBTIQ-Aktivist die Wahl ins Gemeindeparlament von Nyon. Nun kandidiert Diserens auf der Liste der Grünen für den Nationalrat. Er selbst bezeichnet sich als androgyn, im öffentlichen Raum bewegt er sich nachts aus Angst vor Angriffen nie, wie er gegenüber «24 Heures» sagte. Als Politiker, der gewählt werden will, muss er sich in der Öffentlichkeit präsentieren, gleichzeitig wird er nach Aussagen zu Queer-Themen mit Hasskommentaren eingedeckt. Diserens vergleicht die Ausbeutung der Natur durch den Menschen mit der Dominanz der Männer über die Frauen. In diesem Sinn sehe er sich als Teil einer «ökofeministischen» Bewegung.
Der Holzlieferant für die Notre-Dame
1300 Eichen waren gefragt, um den Dachstuhl der Notre-Dame in Paris nach dem verheerenden Brand zu rekonstruieren. 30 dieser Baumstämme hat eine Sägerei im jurassischen Vendlincourt bearbeitet. Gauthier Corbat erfüllt der Gedanke mit Stolz, dass er Teil des Familienbetriebs ist, der am Wiederaufbau der weltberühmten Kirche mitwirkte. Der 38-jährige Kunsthistoriker ist Vizedirektor der Sägerei in der Ajoie, nun kandidiert er für die Mitte-Partei bei den Nationalratswahlen.
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