Wahl der Woche (70)Mit oder ohne Kopfhörer?
Unsere Autorin entflieht dem Lärm des Alltags, während unser Autor der Welt etwas Lautes zurufen möchte.
Liebe Leserinnen und Leser, in der Kolumne «Wahl der Woche» streiten sich unsere Redaktorin Simona Pfister und unser Redaktor Sven Behrisch über die kleinen und grossen Dinge des Alltags. Letztes Mal ums Wetter, heute ums Hören.
Simona Pfister: Hätte ich aber die Kopfhörer nicht….
Einen Grossteil meiner guten Charaktereigenschaften habe ich wohl Kopfhörern zu verdanken. Denn sie ermöglichen mir eine Art akustische Katharsis: Wenn ich mich in mein Kämmerlein zurückziehe und sie aufsetze, dann verschwindet für einen Moment der Lärm des Alltags, alle Wut und Trauer und Verwirrung lassen von mir ab, ich tauche ganz ein in die Musik, alles wird bunt und froh, und vielleicht tanze ich sogar ein wenig. Wenn ich die Kopfhörer dann wieder absetze, ist mein Gemüt erhellt, meine Sinne sind erfrischt, ich bin nun wach und freundlich und aufmerksam und geduldig mit der Welt. Hätte ich aber die Kopfhörer nicht, ja, dann …
Sven Behrisch: Sie wollen es ja gar nicht hören
Da sitzen und stehen und gehen sie, mit Stöpseln in den Ohren. Gelangweilt vom matten Drehbuch ihres Daseins, verlangt es sie nach einem Soundtrack, der in ihrem Leben Ereignis simuliert. Wie der Spiesser am Grill aus dem Nachbargarten, der seine Ohrhörer anlegt wie Tom Cruise den Helm in «Top Gun» und, wenn das Fett der Cervelats in die Denner-Kohle spritzt, zum Takt von «Take My Breath Away» asthmatisch durch die Wolkendecke stösst.
Autistisch und reaktionsarm stieren sie vor sich hin, das Versprechen auf Unterhaltung und Abenteuer im Ohr, an das sie in dem, was sie Leben nennen, den Glauben längst verloren haben. Die Sneaker weiss, die Airpods weisser, suchen sie tagaus, tagein nach Sinn auf Spotify. Man möchte ihnen zurufen, dass um sie herum die wahre Welt ertönt: Die Frau, die am offenen Fenster singt, der Wind in den Bäumen, ihr eigener Furz, das Kind, das im Tram seinen Vater erniedrigt. Doch sie können, nein, sie wollen es ja gar nicht hören.
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