Niemand weiss, wann die schon lange angekündigte Frühjahrsoffensive der ukrainischen Armee startet. Und niemand weiss, wo die Ukrainer zuschlagen werden: Bei Saporischschja oder Cherson im Süden? Oder doch im Osten, wo es weniger erwartet wird?
Tatsache ist: Die russische Armee hat sich bereits seit Winter 2022, als die ukrainische Armee eine Kriegspause einlegte, regelrecht eingegraben. Einmalige Analysen von Satellitenbildern zeigen Tausende Schützengräben, Panzergräben und -sperren sowie andere militärische Hindernisse – mit einer Länge von sicherlich mehreren Hundert Kilometern insgesamt.
Die Befestigungen stehen teilweise unmittelbar an der Front – teilweise aber auch weit dahinter. Es sind defensive Anlagen. Gebaut, um die Ukrainer bei einem Angriff zu bremsen.
US-amerikanische Unternehmen wie Planet Labs oder Maxar stellen hochaufgelöste Satellitenbilder zur Verfügung. Der Open-Source-Militäranalyst Brady Africk vom Washingtoner Thinktank American Enterprise Institute wertet diese aus – und stellt die Daten zur Verfügung.
Die Befestigungen verlaufen entlang der gesamten russisch-ukrainischen Grenze. Und auch der 1000 Kilometer lange Frontabschnitt im Osten und Süden ist mehr oder weniger durchgängig verbaut.
Die vier Karten zeigen, zu welchem Zeitpunkt das russische Militär die Befestigungen gebaut hat. Bis und mit November des vergangenen Jahres sind noch kaum Anlagen zu sehen – oder nur vereinzelt im Süden der Ukraine bei Cherson. Der grossflächige Bau beginnt erst systematisch im Dezember 2022 und im Januar dieses Jahres.
Das ist kein Zufall – und hängt mit Russlands schwachen eigenen Vorstössen sowie den Erfolgen der Ukrainer zusammen. Im Herbst 2022 gelang es letzteren, innerhalb kürzester Zeit ein grosses Gebiet im Osten bei Charkiw zurückzuerobern. «Nach dieser Offensive wurde Russland klar, dass eine Niederlage möglich ist», sagte Rob Lee, Senior Fellow am Foreign Policy Research Institute, der Nachrichtenagentur Reuters. Insofern seien die Befestigungen «eine Anerkennung des Risikos, dass die Ukraine einen weiteren Durchbruch erzielen könnte». Vermutlich sehe das russische Militär in den Verteidigungsanlagen die beste Chance, eine entscheidende Niederlage abzuwenden.
Die Schützengräben sollten achselhöhlentief sein
Bei den Befestigungen handelt es sich in der Mehrzahl um Schützengräben. Das sind die am einfachsten zu bauenden Anlagen. Gemäss den Handbüchern der US-Armee sollen solche Stellungen achselhöhlentief ausgehoben und mit einer Frontwand aus Sandsäcken, Steinen oder Erde versehen werden. Die Gräben schützen die Soldaten vor Kugeln und teilweise auch vor Artillerie.
Die Russen heben die Gräben sehr schnell aus – etwa mithilfe des noch aus Sowjetzeiten stammenden Grabenbaggers BTM-3, der in nur einer Stunde eine Länge von 800 Metern schafft.
Die meisten Schützengräben sind im Zickzack- oder Winkelmuster angelegt, was die Sicht des Feindes einschränkt und zusätzlichen Schutz vor seitlich einschlagenden Granatsplittern bietet. Zahlreiche Schützengräben sind auf den Satellitenbildern deutlich zu erkennen, sie sind nicht versteckt und auf offenem Gelände gebaut.
Neben den klassischen Schützengräben haben die russischen Soldaten unzählige weitere Hindernisse zur Verteidigung gebaut. Dazu gehören beispielsweise Panzergräben und Panzersperren. Auch Stacheldraht und Baumstämme dienen der Verteidigung. Ein effektives und perfides Mittel sind darüber hinaus Minen.
Grabenkämpfe gehören noch immer zur modernen Kriegsführung
Die Taktik der Russen mag seltsam anmuten, sind doch Grabenkämpfe eigentlich ein Relikt aus den Kriegen des 20. Jahrhunderts. Laut Experten spielen solche Hindernisse aber auch heute noch eine wichtige Rolle in der modernen Kriegsführung – weil sie die Angriffsmöglichkeiten des Feindes bestimmen, wie Ben Barry, Analyst am International Institute for Strategic Studies, erklärt. «Der Grundgedanke von Verteidigungsstellungen besteht darin, sich einen Vorteil zu verschaffen, indem man von vorbereiteten Positionen aus kämpfen kann», sagte er der «New York Times». Die Sowjets hätten diese Art der Verteidigung im Zweiten Weltkrieg genutzt – auch heute noch sei es für Moskau das Mittel der Wahl bei einer Verteidigungsschlacht.
Und es besteht kaum Zweifel daran, dass diese Schlacht bald kommen wird. Die Ukrainer haben dank westlicher Hilfe aufgerüstet. Für die anstehende Offensive sollen insgesamt bis zu 110’000 Mann – teilweise frisch ausgebildet – zur Verfügung stehen. Zudem sind mittlerweile fast alle zugesagten Waffen aus dem Westen in der Ukraine eingetroffen. Dazu gehören unter anderem Artilleriegeschütze sowie mehr als 230 Panzer und über 1500 gepanzerte Fahrzeuge.
Viele Beobachter erwarten einen ukrainischen Vorstoss am ehesten in der Region Saporischschja. So könnten die Ukrainer einen Keil zwischen die russischen Truppen treiben und diese aufspalten. Auch die Kreml-Truppen scheinen einen solchen Vorstoss für plausibel zu halten – zumindest haben sie die Region Saporischschja überdurchschnittlich gut abgeriegelt. Auch bis weit hinter die Front: So sind mehrere Orte von Verteidigungsanlagen komplett umschlossen.
Eine vergrösserte Karte zeigt Befestigungsanlagen rund um mehrere Städte wie Tokmak, Bilmak und Michailowka entlang wichtiger Strassen.
Besonders gut geschützt ist auch die Halbinsel Krim. Auf sie führt im Nordwesten nur die gerade sechs Kilometer breite Perekop-Landbrücke sowie eine noch schmalere Verbindung nordöstlich. Die Ukraine verfügt weder über eine schlagkräftige Marine noch über moderne Kampfflugzeuge, um die Krim massiert anzugreifen. Das heisst: Wollen die Ukrainer die Krim zurückerobern, müssen sie die Verteidigung der Russen durchbrechen.
Möglich sind bei der Frühjahrsoffensive aber auch ukrainische Vorstösse in Richtung Cherson, wo es den ukrainischen Truppen laut dem Institute for the Study of War Ende April gelungen ist, auf die bisher von Russland kontrollierte Seite des Flusses Dnjepr vorzustossen. Als weniger wahrscheinlich schätzen Experten einen Vorstoss an der Ostfront ein.
Doch die entscheidende Frage ist: Können die Ukrainer die Stellungen der Russen durchbrechen?
Eine Antwort darauf zu geben, sei schwierig, sagt der ETH-Militäranalyst Niklas Masuhr. «Weil ukrainische Truppen in diesem Krieg bisher noch nie ansatzweise in dieser Grössenordnung gegen eingegrabene russische Kräfte vorgerückt sind. Der finale Wert der Befestigungen wird sich daher erst während und insbesondere nach der ukrainischen Offensive einigermassen seriös ermitteln lassen.»
Noch bremst der schlammige Boden die Offensive
Laut Experten ist das schiere Ausmass der Verteidigungsanlagen an sich kein Hindernis. Vermutlich werden die Ukrainer an einer oder mehreren Stellen geballt angreifen. Die Konzentration der Kräfte ist einer der Eckpfeiler der klassischen Militärdoktrin. Und diese Konzentration könne der Ukraine einen Vorteil verschaffen, sagt Militäranalyst Lee. Schaffen es die Ukrainer hinter die Front, kann dies andere Verteidigungsbereiche aushebeln und letztlich zu einem breiten Durchbruch führen.
Allerdings versinken zurzeit wegen des vielen Regens weite Teile der Front im Schlamm. Eine vorerst natürliche Barriere für Panzer und anderes schweres Gerät. Sobald es länger trocken bleibt, steigt die Wahrscheinlichkeit eines Angriffs. Vielleicht schon in diesem Monat.
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