Von der Hamas entführtIn Zürich hängen Flyer von verschleppten Israelis
Die selbst gedruckten Plakate zeigen Fotos von mutmasslichen Hamas-Geiseln unter dem Titel «Kidnapped». Wo kommen sie her?
Wenige Tage nach dem brutalen Überfall der Hamas auf Israel hängen die Plakate an der Tramhaltestelle vor dem Bahnhof Wiedikon. Sie prangen auf Laternenpfählen und Zeitungsboxen, befestigt mit Klebstreifen.
Unter dem Titel «Kidnapped», weiss auf rotem Grund, sind Fotos und Namen von verschiedenen Israelis zu sehen, die mutmasslich von der Hamas entführt wurden. Darunter steht ein auf allen Plakaten identischer Text.
Über 200 unschuldige Zivilisten seien am 7. Oktober entführt worden, ihr Verbleib sei unbekannt, heisst es. Darauf folgt die Bitte: «Fotografieren Sie dieses Poster und teilen Sie es. Bitte helfen Sie, sie lebend heimzubringen.»
Jeder kennt über ein paar Ecken ein Opfer
Die Plakate werden weltweit in der jüdischen Gemeinschaft geteilt, wie eine 26-jährige Zürcher Jüdin erzählt. Auch sie hat das Sujet aus dem Internet heruntergeladen. Als wir sie am Telefon erreichen, ist sie daran, den Text zu übersetzen und Plakate zu drucken, die sie später aufhängen will.
Ihren Namen will die 26-Jährige nicht nennen, zu einfach wären sie und ihre Familie erkennbar. Über ihre Motive redet sie aber gern. «Die jüdische Gemeinschaft ist klein», sagt sie, «jede und jeder kennt zumindest über ein paar Ecken jemanden, der ermordet oder entführt worden ist.» Das sei schwer erträglich.
«Das sind Menschen mit einem Namen und einer Geschichte.»
Mit den Plakaten will sie ein Zeichen setzen. Ein Zeichen gegen all die Sticker und Poster mit Intifada- und antisemitischer Propaganda, die sie seit Jahren in der Stadt sieht. Nicht selten stehen Linksautonome dahinter.
Gerade die progressive Linke verstehe die Intifada falsch, kritisiert sie: «Die Intifada bedeutet für mich die Beseitigung von Jüdinnen und Juden und des Staates Israel. Ich sehe mich selbst als progressiv und links, aber in diesem Punkt fühle ich mich von der Linken unglaublich verlassen.»
Sie will aber auch sensibilisieren und zeigen: «Die Opfer sind nicht nur Soldaten, sondern auch Zivilisten. Das sind Menschen mit einem Namen und einer Geschichte.»
Der Welt den Schrecken zeigen
Die Aktion scheint in der jüdischen Gemeinde auf viel Zuspruch zu stossen. So sagt ein 53-jähriger Zürcher, der selbst keine Plakate geklebt hat: «Das ist ein sehr wichtiges Zeichen. Wir müssen der Welt zeigen, wie schrecklich das ist, was die Hamas tut.»
Und dann erzählt er von einem Telefongespräch, das er am Samstag mit einer Bekannten führte, die in einem Kibbuz lebt. Er hat sie angerufen, obwohl gläubige Juden am Sabbat eigentlich nicht telefonieren. «Sie hat nur geflüstert, sie sitze mit ihren Kindern im Keller, habe eine Axt und Messer dabei. Ihr Mann sei ausser Haus, und sie wisse nicht, was tun.»
«Wir brauchen und erwarten von den Leuten, dass sie rausgehen und klar sagen: Nicht hier. Nicht bei uns.»
Die Frau kam mit dem Leben davon, ihr Kibbuz wurde verschont. Aber es sind auch solche Geschehnisse, die dazu geführt haben, dass Jüdinnen und Juden selbst hierzulande das Gefühl verloren haben, sicher zu sein.
Vor allem angesichts von Aufrufen zu weltweiten Pogromen am Freitag, dem 13. Oktober, über die verschiedene Medien berichteten, so auch das jüdische Magazin «Tachles». Oder angesichts von propalästinensischen Kundgebungen, wie jener, die auf der Polyterrasse geplant war. Der 53-Jährige, der Mitarbeiter der Israelitischen Cultusgemeinde Zürich ist, sagt: «Wir brauchen und erwarten von den Leuten, dass sie rausgehen und klar sagen: Nicht hier. Nicht bei uns.»
Wenigstens etwas tun
Und ja, natürlich ist die Plakataktion auch ein Versuch, gegen die Hilflosigkeit anzukämpfen. Vielen Menschen in ihrer Gemeinde gehe es nicht gut, sagt die 26-Jährige, die am Donnerstag Plakate kleben geht. Auch sie schläft kaum noch, hängt ständig am Handy. Hofft auf Lebenszeichen von Freunden in Israel, die ins Militär einrücken mussten, fragt mehrmals täglich nach.
Indem sie Plakate klebe, könne sie wenigstens etwas tun, erzählt die junge Frau, die in der Medienbranche arbeitet. «Erst wer nichts tut, hat verloren», sagt sie. Sie will nicht daran glauben, dass diese Menschen nie mehr auftauchen. Vielleicht würden die Flyer ja helfen, dass Verschleppte wieder gefunden werden.
Offenbar herrscht in der jüdischen Gemeinde die Befürchtung, die mutmasslichen Geiseln könnten ins Ausland gebracht werden – vor allem die Kinder. Indem ihre Bilder weltweit geteilt werden, soll sichergestellt werden, dass sie erkannt würden. Und weltweit geteilt werden die Bilder: Plakate, die identisch sind mit den in Zürich aufgehängten, kleben beispielsweise auch in New York und Harvard.
Die Hoffnung, sagt die junge Frau, sterbe zuletzt.
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