Bundespräsidentin in New YorkAm grossen Tisch der UNO verzichtet selbst Amherd auf einen Spruch
Mit den USA und Russland über Krieg und Frieden bestimmen: Das kann die Schweiz im UNO-Sicherheitsrat. Ausgerechnet in einer der schwierigsten Phasen ist sie nun dessen Präsidentin. Unterwegs in New York mit Viola Amherd.

- Bald sind die zwei Jahre der Schweiz im UNO-Sicherheitsrat vorbei.
- Derzeit ist die Schweiz Präsidentin des Rates – in einer schwierigen Phase. Bundespräsidentin Viola Amherd ist nach New York gereist.
- Die Schweiz verzeichnete diplomatische Erfolge im Rat. In der Praxis brachte aber etwa ein Entscheid für den Schutz von humanitären Helfern keine Besserung.
- Die SVP äusserte im Vorfeld viel Kritik am Einsitz im Sicherheitsrat – und sah die Neutralität am Ende.
Ein schwarzer BMW fährt auf das Rollfeld des Flugplatzes Bern-Belp. Viola Amherd steigt aus und schüttelt dem Piloten der Luftwaffe die Hand. Dann schreitet sie in den hinteren Teil des Bundesratsjets und scherzt: «Ich muss rasch den Flugdress anziehen.» Als sie wieder auftaucht, trägt sie einen blauen Pulli, die Schuhe sind weg. Rund neun Stunden Flugzeit liegen vor der Bundespräsidentin und ihrer Delegation. Das Ziel: New York.
Dort wird Amherd am nächsten Tag eine Sitzung des UNO-Sicherheitsrats leiten. Die Schweiz sitzt seit knapp zwei Jahren im mächtigsten Gremium der UNO – und bleibt nur noch bis Ende Jahr. Derzeit ist die Schweiz Präsidentin des Rats. Amherds Auftritt soll den Höhepunkt markieren. Der Sicherheitsrat besteht aus 15 Ländern, die über Krieg und Frieden entscheiden können.
«Unsere Präsidentschaft fällt in eine der schwierigsten Phasen in der Geschichte des Sicherheitsrats», sagt die Schweizer Chefdiplomatin bei der UNO, Pascale Baeriswyl, als sie Amherd im UNO-Gebäude empfängt. Ukraine, Naher Osten, Sudan, Myanmar – überall wüten schlimme Kriege. Baeriswyl muss alle paar Tage eine dringende Sitzung einberufen. Hinzu kommen die bevorstehenden US-Wahlen. Viele Diplomaten bei der UNO sind nervös. Trump hat schon in seiner ersten Präsidentschaft klargemacht, dass er die USA nicht als Weltpolizei sieht. Wird er gewählt und macht seine Ankündigungen wahr, wird das die UNO weiter schwächen.
Die Schweiz soll genau in einer heiklen Phase als Präsidentin etwas bewirken. Kann sie das? Profitiert sie von der Präsidentschaft auch selbst? Oder hatten die Kritiker recht – und die Schweiz hat nur ihre Neutralität riskiert und viel Geld ausgegeben?
Eine Mission Impossible?
Amherd sitzt im Präsidialraum der UNO. Hinter ihr hängt ein riesiges Bild der Monte-Rosa-Hütte im Wallis. Sie bereitet die Sitzung vor. «Gestern ist die Debatte eskaliert, es gab sogar einen Hitler-Vergleich – da musste ich einschreiten», warnt Baeriswyl sie. Amherd zieht die Augenbrauen hoch. Doch die Diplomatin beruhigt sie: Heute werden keine Ausfälligkeiten erwartet. Es geht um die Inklusion von Frauen in Friedensprozessen. Ein Lieblingsthema von Verteidigungsministerin Amherd – und eines, bei dem sich sogar China, Russland und die USA einig werden können. Das sind die drei Länder, die den Sicherheitsrat mit ihrem Vetorecht blockieren, wenn ihre eigenen Interessen im Spiel sind.

Dass der Sicherheitsrat effektiv über Krieg und Frieden bestimmt, ist selten geworden. Aussenminister Ignazio Cassis stellte im Frühling in einer Rede fest: «Der UNO-Sicherheitsrat ist nur wenig handlungsfähig, und selbst die seltenen erfolgreichen Beschlüsse werden kaum umgesetzt.» Baeriswyl erklärt es so: «Nach dem Kalten Krieg wussten Rebellengruppen weltweit: Wir dürfen nicht querschiessen, sonst greifen die USA oder Russland ein.» Heute fehle diese Drohkulisse oft. Hier etwas zu bewegen – es klingt wie eine Mission Impossible.
Aber die Botschafterin betont auch, dass der Sicherheitsrat in vielen Teilen der Welt weiterhin eine wichtige Rolle spiele. «Zum Beispiel über seine verschiedenen Friedensoperationen, die in Kolumbien oder im Südsudan jeden Tag Zivilpersonen schützen.»
Der sichtbarste Beitrag der Schweiz im Sicherheitsrat war eine Resolution, die den Schutz von humanitären Helfern in Konfliktgebieten fordert. Nach unzähligen Gesprächen mit den anderen Staaten schafften es die Vertreterinnen und Vertreter in New York, diese ohne Veto durchzubringen. Diplomatisch gesehen sei das ein Erfolg gewesen, sagt Sara Hellmüller, die an der ETH Zürich zum Sicherheitsrat forscht. Und doch wird 2024 voraussichtlich das tödlichste Jahr für humanitäre Helfer werden.
Hellmüller wertet für ein Forschungsprojekt die Mitgliedschaft der Schweiz im Sicherheitsrat aus. Sie sagt: «In den letzten zwei Jahren war die UNO selten so stark unter Beschuss wie jetzt – rhetorisch, aber auch wortwörtlich, wenn man an die Angriffe der israelischen Armee auf die UNO-Blauhelmsoldaten im Südlibanon denkt.»
Warnungen vor dem Ende der Neutralität
Auch Amherd sagt: «Der Multilateralismus ist in der Krise.» Dass Staaten gleichberechtigt auf Lösungen hinarbeiten: Das komme leider nicht mehr oft vor. Sie wiederholt diesen Satz mehrmals: Bei Treffen mit Mediatorinnen, im Gespräch mit der Vizegeneralsekretärin der UNO, in einem Presse-Statement. Immer folgt darauf eine Ergänzung, die klingt wie ein Mantra: Der Sicherheitsrat sei einer der wenigen Orte, an denen Länder wie Russland und die USA noch zusammen am Tisch sässen und miteinander sprechen würden. «Üfgä isch kei Option.»

Im Ernstfall entscheiden im Sicherheitsrat 15 Länder, ob die UNO Truppen entsendet. Das ist zwar erst dreimal passiert. Trotzdem wäre dies das grösste Risiko für die neutrale Schweiz. Genau deshalb war es ein diplomatischer Hochseilakt, bis die Schweiz am halbkreisförmigen Tisch in New York Platz nahm.
Zehn Jahre lang wurde die Kandidatur vorbereitet. Viermal stimmte das Parlament darüber ab, ob sie gestoppt werden soll. Und die heikelste Phase, in der die Schweiz andere Länder von ihrer Kandidatur überzeugen musste, fiel in die Covid-Pandemie. Per Taxi liess Baeriswyls Team kerzenbetriebene Raclette-Rechauds und Weisswein ausliefern, um die Gäste beim Onlinemeeting trotzdem bewirten zu können.
Am 9. Juni 2022, am Tag der Wahl, demonstrieren SVP-Parlamentarier wütend mit Schildern vor dem Bundeshaus. Sie sehen die Neutralität des Landes am Ende. Dann wird die Schweiz mit dem besten Resultat gewählt, das ein westlicher Staat je erzielt hat. Und die Kritik flacht ab.
«Aus meiner Sicht gab es bisher keine Situation im Sicherheitsrat, die der Neutralität hätte schaden können», sagt Amherd. Zweimal wurden Aussenpolitiker des Parlaments bei heiklen Entscheiden beigezogen – es ging um einen Einsatz in Haiti und um die Anerkennung von Palästina als Staat.
Beim ersten Entscheid war SVP-Nationalrat Franz Grüter noch Präsident der Aussenpolitischen Kommission. Weil es darum gegangen sei, Haiti mit Polizeikräften zu stabilisieren, habe man dem Einsatz guten Gewissens zustimmen können, findet er. «Aber dass die Schweiz nicht vor einen Entscheid gestellt wurde, der sie ihre Neutralität gekostet hätte, war einfach nur Glück.» Immerhin habe er bei zwei Besuchen in New York festgestellt, dass das Schweizer Team bei heiklen Entscheiden sorgfältig abwäge. «Da wurde also auf die Bedenken der SVP Rücksicht genommen».
24 Millionen Franken sprach der Bundesrat für den Einsitz im Sicherheitsrat. Das Geld musste innerhalb des Aussendepartements kompensiert werden. Auf den betroffenen Botschaften waren einige Leute wenig erfreut darüber.
Amherd betont, der Einsitz im Sicherheitsrat habe einmalige Chancen zur Kontaktpflege gebracht. Die Schweiz habe zwei Jahre lang unkomplizierten Zugang zu Grossmächten wie den USA und China erhalten. «Zudem konnte Genf als Standort internationaler Treffen gefördert werden.» Aus schweizerischer Perspektive sei dies wohl der grösste Vorteil dieses Mandats gewesen.

Baeriswyl ergänzt: «Viele andere Staaten sagen uns, gerade weil die Lage so schwierig ist, seien sie froh, dass die Schweiz den Rat präsidiere – weil es uns gelinge, Brücken zu bauen.»
Der russische Botschafter und die «doppelte Präsidentin»
Amherd setzt sich auf den Platz mit dem Schild «President», sie überblickt den ganzen Saal. Dann schlägt sie mit dem berühmten Holzhammer auf den Tisch. Wer muss mit Namen angesprochen werden, und wer ist einfach ein Vertreter von Staat X? Solche Fragen sind Amherd und Baeriswyl vor dem Treffen extra durchgegangen.
Es gibt wenige Orte, an denen Sprache so politisch ist wie im Sicherheitsrat. Das Ziel der Schweiz: das Völkerrecht, die Beteiligung der Zivilgesellschaft und die Rechte der Frauen in möglichst allen Texten zu erwähnen. Die Worte werden zwischen Bern und New York abgewogen: Wie weit können wir gehen? Amherd ist dafür bekannt, dass sie gern mit einem spontanen Spruch überrascht.
Doch im Rat hält sie sich strikt an den Redetext. Angegriffen wird sie nicht. Der russische Vertreter schmeichelt ihr sogar fast: «Sie sind heute eine doppelte Präsidentin.» Danach baut er zwar einige Spitzen gegen die westlichen Staaten ein, doch von der «nicht neutralen» Schweiz sagt er diesmal kein Wort.
Es ist das dritte Mal in diesem Jahr, dass Amherd nach New York gereist ist. In der Schweiz kreiden ihr manche Sicherheitspolitiker an, sie fliege lieber in der Welt herum, als bei der Armee aufzuräumen. Amherd sagt: «Ich habe das Thema Sicherheit immer im Gepäck.» Das sei eine von drei Prioritäten, die sie sich im Präsidialjahr gesetzt habe. Die anderen beiden sind Multilateralismus und die Beziehung Schweiz - EU. Klar ist: Nach New York wird sie mit dem Bundesratsjet dieses Jahr nicht mehr fliegen. Dafür vielleicht nach Brüssel. Zur wahren Mission Impossible.

Fehler gefunden?Jetzt melden.