Betrugsfälle an OlympiaViele Athleten haben Doping schon mal anonym zugegeben
Wie gross der Anteil der Doperinnen und Doper in Tokio ist, kann niemand genau sagen – die offiziellen Zahlen und Ergebnisse von Studien klaffen weit auseinander. Eine Übersicht.
Die Schweizer Olympiadelegation sorgt für Schlagzeilen – im positiven wie im negativen Sinn. Schon sechs Medaillen hat sie geholt, bei den Mountainbike-Frauen gab es sogar einen historischen Dreifachtriumph. Doch die Erfolge werden von Dopingvorwürfen überschattet: Hürdensprinter Kariem Hussein wurde neun Monate gesperrt, weil er eine unerlaubte Substanz zu sich genommen hatte. Und jetzt ist auch Sprinter Alex Wilson eine positive Probe zum Verhängnis geworden.
Zwei Fälle innert weniger Tage. Ein Zufall? Wohl kaum. Auch zahlreiche andere Athleten wurden für Tokio gesperrt, darunter der chinesische Schwimmstar Sun Yang sowie die amerikanische Hürdenläuferin Brianna Rollins-McNeal. Und es muss befürchtet werden, dass viele Olympiateilnehmende betrügen, aber (noch) nicht überführt wurden.
«Die Wahrheit ist: Dieses Testsystem können wir komplett in die Tonne treten.»
«Mehr als 10 Prozent» der Profisportlerinnen und -sportler könnten gedopt sein, sagte einst David Howman, als er noch Chef der Welt-Anti-Doping-Agentur (Wada) war. Untersuchungen und Befragungen lassen sogar noch weit höhere Zahlen vermuten. So analysierten Forscher der Universität Lausanne die Blutproben aller 3683 Teilnehmenden der Leichtathletik-Weltmeisterschaften 2011 und 2013. Sie kamen zum Schluss, dass 15 bis 18 Prozent von ihnen gedopt waren.
Für eine andere Studie der Universität Tübingen und der Harvard Medical School wurden an der Leichtathletik-WM und den Pan-Arab-Games im Jahr 2011 über 2000 Athleten anonym befragt. 43,6 respektive 57,1 Prozent gaben zu, in den zwölf Monaten zuvor gedopt zu haben. Offiziell wurden an der WM nur 0,5 Prozent der getesteten Athleten als Sünder enttarnt.
Der Veröffentlichung dieser Studie 2018 ging ein jahrelanger Rechtsstreit voraus. Die Autoren warfen dem Weltleichtathletik-Verband IAAF vor, die Resultate absichtlich zu blockieren und selbst unfähig zu sein. Das offizielle Testsystem sei unbrauchbar, sagte Perikles Simon, Sportmediziner und Co-Autor der Studie. «Da gibt es gar nichts, keine Struktur, keine Idee, keine funktionierende Methodik.»
2019 ist das neuste Jahr, für das Daten der Wada vorliegen: Von mehr als 278’000 Dopingtests waren nur 0,97 Prozent positiv. Bei olympischen Sportarten waren es sogar nur 0,67 Prozent. Auffällig ist, dass die Zahlen in den Jahren 2012 und 2016 am höchsten waren, als jeweils olympische Sommerspiele stattfanden.
Am meisten Fälle wurden 2019 im Reitsport aufgedeckt, wobei hier die Leistungssteigerung des Pferdes im Zentrum steht. Verhältnismässig oft schummeln auch Gewichtheber, gemäss den Wada-Zahlen sogar doppelt so häufig wie Leichtathleten. Stark betroffene Sportarten sind auch Boxen, Ringen, Radfahren und Rugby.
Aber eben: Die offiziellen Zahlen zeigen lediglich, wie viele erwischt werden. Knapp 1 Prozent der Sportlerinnen und Sportler sind betroffen. Wenn man davon ausgeht, dass Ex-Wada-Chef Howman mit seinen 10 Prozent recht hatte, kommen also neun von zehn Dopingsündern ungestraft davon. Nur die «Dummen» würden geschnappt, sagte Howman.
Noch viel höher wäre der Anteil der Ungestraften laut den Studien der Universitäten Lausanne und Tübingen, die von 15 bis 57 Prozent Dopern ausgehen. Es handelt sich aber um Schätzungen. Und gerade die anonymisierte Umfrage der Tübinger Forscher wird von manchen Fachleuten kritisch gesehen. «Athleten haben vielleicht die Fragen nicht richtig verstanden oder legale Nahrungsergänzungsmittel mit Doping verwechselt», sagte der Sportmediziner Yorck Olaf Schumacher gegenüber dem «Economist».
Schumacher half mit bei der Entwicklung des biologischen Passes, in dem Daten aus medizinischen Kontrollen eines Sportlers gesammelt werden. Messungen mithilfe des Passes lassen auf etwa 14 Prozent positive Fälle schliessen. Also unabhängig davon, welchen Zahlen man nun Glauben schenkt: Man muss davon ausgehen, dass deutlich mehr Athletinnen und Athleten betrügen, als erwischt und gesperrt werden.
Belinda Bencics langer Weg nach Tokio – unsere exklusive Olympia-Doku
Wir haben die beste Schweizer Tennisspielerin vor den Olympischen Spielen 2021 zwei Jahre lang eng mit der Kamera begleitet. Hier geht es zu Bencics Geschichte.
Fehler gefunden?Jetzt melden.