Versuch einer offenen Beziehung
Sie wollte mehr Freiheit und Ehrlichkeit. Doch ihr Umfeld legte es als Egoismus aus. Eine Frau erzählt.

Leichtigkeit statt Lügen. Leidenschaft, auch mit anderen Männern. Eine offene Beziehung statt Monogamie: Anna (Name geändert) hatte jahrelang danach gestrebt, diese Art von Beziehung leben zu können. Die traditionelle Form engte sie nach all den Jahren mit ihrem Mann zu sehr ein.
Immer wieder hatte sie in der Vergangenheit kurze, heimliche Affären mit anderen Männern gehabt. Jetzt wollte sie ihre Sexualität frei leben und gegenüber ihrem Mann ehrlich sein. Denn mit ihm – ihrer grossen Liebe – wünschte sie weiterhin, zusammen zu sein.
Aber kaum lebten sie eine offene Beziehung, bereute Anna, diesen Weg eingeschlagen zu haben. «Das Ganze war ein grosser Fehler», sagte Anna kürzlich bei einem Treffen mit mir. Vor einem Jahr hatten sie und ihr Mann ihre Beziehung geöffnet. «Wenn ich gerne etwas rückgängig machen würde, dann das», sagt sie. «Oder kannst du mir ein Beispiel einer offenen Beziehung nennen, die funktioniert?» Ich überlege kurz und verneine.
Begehren und begehrt werden
Anna erzählt vom Versuch, ihre klassische Paarbeziehung in eine offene zu wandeln. Seit fast zwanzig Jahren schon ist sie mit ihrem Mann zusammen, und sie findet noch immer, dass sie als Eltern «eine gute Falle» machen. «Die Familie und die zwei Teenagerbuben sind uns beiden das Wichtigste», sagt sie. Als Paar jedoch hätten sie sich auseinandergelebt. «Wir sind Freunde und wir lieben uns auf eine Art noch immer, doch das Körperliche, die gegenseitige Anziehung, die ist weg. Wir sind längst kein Liebespaar mehr.»
Vor fünf Jahren begann Anna, sich in Affären auszuleben. Sie genoss es, begehrt zu werden und selbst zu begehren. Sie war Anfang vierzig, ging wieder aus, lernte Männer kennen, übte sich in der Liebeskunst Tantra, traf sich mit einer Affäre auch mal in einem Hotel. Sie fand ihr Leben wieder aufregend und blühte auf. Ein schlechtes Gewissen hatte sie deswegen nicht, sagt sie, aber die damit verbundene Geheimnistuerei begann sie zunehmend zu stören. Mit ihrem Mann hatte sie nie darüber geredet. Bis sie sich vor einem Jahr ein Herz fasste und ihm von ihren Affären, ihrem Verlangen und ihrer Lust erzählte. Und dass sie fortan eine offene Beziehung führen wolle.
Ihr Mann brach zusammen. Er konnte nicht fassen, was sie da tat und von ihm verlangte. Für ihn war ihre Beziehung bis anhin gut gewesen, er hatte nichts vermisst. Aber weil er Anna auf keinen Fall verlieren wollte, willigte er letztlich ein, die Beziehung zu öffnen, sprich: andere Sexpartner zuzulassen.
Auch die Kinder sollten davon wissen
Anna war erleichtert. Sie dachte, sie seien damit einen Schritt weiter gekommen, hätten quasi eine höhere Beziehungsebene erlangt. Sie irrte sich. Der sexuelle Freipass machte die Sache erst recht kompliziert: Der misstrauische, verletzte Blick jedes Mal, wenn sie sich schminkte, oder auch nur für kurze Zeit aus dem Haus ging. Seine bissigen Kommentare am nächsten Morgen nach einer langen Partynacht. Nicht zuletzt die plötzlich fragenden, ja, verurteilenden Blicke der Schwiegereltern und der engsten Freunde, wenn sie ihr begegneten. Es war eine Bedingung ihres Mannes gewesen, dass sie die Familie (inklusive Teenager) und die Vertrauten in ihre neue Beziehungsform einweihten: Wenn sie schon mit offenen Karten spielen wollten, dann richtig.
Anna bekam zu spüren, wie ihre Liebsten ihr Verhalten wahrnahmen: Statt von Ehrlichkeit und Offenheit zu sprechen, wie Anna es tat, redeten sie von Egoismus und Empathielosigkeit. Ihr «Männerverschleiss» und ihre Untreue hätten ihr Umfeld enttäuscht, verletzt und vor den Kopf gestossen, sagt Anna. Ihr Mann war «emotional versteinert» und sie selbst fühlte sich in eine schmuddelige Ecke gedrängt. Ob der Entscheid einer offenen Beziehung gut gewesen sei? «Ich denke nicht.»
Ein Tantra-Kurs soll helfen
Um eine offene Beziehung zu leben, müssten beide Partner diese Form uneingeschränkt wollen, sagt sie. «Sie müssen fähig sein, Liebe von Sex zu unterscheiden. Zudem sind eine offene Kommunikation und Vertrauen die Basis.» Das sei bei ihnen von Beginn weg nicht gegeben gewesen: Wie sollte ihr Mann ihr auch vertrauen, wenn sie ihn davor betrogen hatte?
Ein paar Wochen nach unserer Begegnung schreibt mir Anna, sie und ihr Mann wagten einen Neuanfang. Eine Paarberatung und ein gemeinsamer Tantra-Kurs sollen dabei helfen. Kurz darauf lese ich in einer Ausgabe der Zeitschrift «Nido» ein Zitat von Dr. Ruth Westheimer, der weltbekannten, schon 98-jährigen Sextherapeutin, das ich treffend finde. Sie sagt: «Sex ist nicht die natürlichste Sache der Welt. Er kommt auch nicht automatisch mit dem richtigen Partner. Man muss um Abwechslung kämpfen!»
Dieser Artikel wurde erstmals am 10. November 2017 publiziert und am 20. Juli 2023 in dieses Redaktionssystem übertragen.
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