Phänomen Aryna SabalenkaDiese Frau schlägt härter als alle Männer
Die US-Open-Finalistin übertrifft mit dem Speed ihrer Vorhandbälle (129 km/h) sogar Carlos Alcaraz (127 km/h). Trotzdem hätte sie gegen ihn keine Chance. Warum eigentlich?
Wenn Aryna Sabalenka mit ihrer Vorhand auf die Bälle einprügelt und ihnen einen herzhaften Schrei hinterherschickt, sind ihre Gegnerinnen oft machtlos. Ihre Bälle fliegen so rasant übers Netz, dass sie bei einer Radarkontrolle auf einer Schweizer Autobahn den Blitz auslösen würden: mit 129 Stundenkilometern im Schnitt. Damit sind die Vorhandbälle Sabalenkas schneller als die aller Männer, inklusive jenen von Carlos Alcaraz. Der Spanier, dessen Vorhand als wuchtigste auf der Tour verehrt wird, kommt auf 127 km/h, Jannik Sinner auf 126 km/h und Novak Djokovic auf 122 km/h.
«Ich habe die Statistik auch gesehen und kann es fast nicht glauben», sagte Sabalenka diese Woche im Platzinterview. «Es fühlt sich irgendwie unangenehm an, an der Spitze zu stehen und sogar härter zu schlagen als die Männer. Aber ja, das ist eine interessante Statistik.»
Chris Everts ungeschickter Vergleich
Ihre Zurückhaltung kommt wohl daher, dass Vergleiche mit Männern im Tennis ein heikles Thema sind. Als Chris Evert am US Open der Tschechin Karolina Muchova ein Kompliment machen wollte und sagte, sie spiele wie ein Mann, löste sie heftige Reaktionen aus und musste sich entschuldigen. Evert meinte das variable, angriffige Spiel Muchovas, die gern und oft ans Netz vorstösst. Ob das ein eher männliches Spiel ist, ist wohl Ansichtssache.
Aber bei Sabalenkas Vorhand gibt es harte Fakten: Der Ball braust bei ihrer Vorhand schneller auf die andere Seite als bei allen Männern. Mit ihrer Wucht und ihrer Kompromisslosigkeit erinnert sie an Serena Williams. Deren Ex-Coach Patrick Mouratoglou, von dem man schon eine Weile nichts mehr gehört hat, meldete sich nun auf den sozialen Medien und sagte, ihn überrasche diese Statistik nicht.
Die Männer spielen mit mehr Drall
Der Franzose erklärt: «Der grösste Unterschied zwischen dem Frauen- und dem Männertennis ist, dass sich die Männer schneller bewegen. Bei den Frauen ist es daher sinnvoll, den Ball hart und mit weniger Spin zu schlagen, um die Gegnerin in Schwierigkeiten zu bringen. Es zahlt sich aus, mehr Risiko einzugehen und flacher zu spielen. Bei den Männern hingegen lohnt sich das nicht, weil das nur selten zum Punkt führt. Manchmal ist es sogar kontraproduktiv, weil der Gegner den Schwung gleich mitnimmt. Deshalb versehen die Männer den Ball mit mehr Spin. So haben sie mehr Marge, und dieser Drall macht es auch schwieriger, die Bälle zu kontrollieren.»
Sabalenkas Vorhandbälle erreichen rund 38 Umdrehungen pro Sekunde, bei den Männern liegt der Durchschnitt bei etwa 47. Rafael Nadal kann die Bälle auf der Vorhand mit bis zu 83 Umdrehungen pro Sekunde versehen, was sie in der Tat schwer zu kontrollieren macht. Roger Federer dürfte das bestätigen. Während Jahren waren Nadals Vorhandbälle auf seine einhändige Rückhand ein grosses Problem für ihn. Sabalenkas Bälle fliegen also schneller übers Netz, aber die Schlägerkopfgeschwindigkeit ist bei den Männern in der Regel höher. Nur wird diese zu einem höheren Anteil in Drall umgewandelt.
Weil es bei den Männern schwieriger ist, von der Grundlinie zu punkten, ist ihr Spiel in der Tat variabler als jenes der Frauen. Sie müssen sich überlegen, wie sie anders zu den Punkten kommen. Das Paradebeispiel ist Carlos Alcaraz, der immer wieder Stoppbälle einstreut und gern ans Netz vorstösst. Sabalenka hätte gegen die männlichen Topspieler keine Chance, weil sie zu viel weniger direkten Punkten käme und viel öfter in der Defensive wäre.
Auf Hartplatz ist sie fast unschlagbar
Imposant ist ihre Wucht aber alleweil. Ihr Powertennis passt perfekt zu den Hartplätzen, wo anders als auf Sand oder in Wimbledon kein Ball verspringt und sie so das perfekte Timing hat. Seit 2023 hat die 26-Jährige an den Grand-Slam-Turnieren auf Hartplätzen – in Melbourne und New York – 26 von 27 Matches gewonnen. Nur gegen Coco Gauff im letztjährigen US-Open-Final verlor sie.
Nun steht ihr in Flushing Meadows erneut ein Endspiel gegen eine Amerikanerin bevor: am Samstag (22 Uhr MEZ) gegen Jessica Pegula. Gegen die vom US-Publikum frenetisch angefeuerte Gauff verlor sie ihre Nerven und unterlag 6:2, 3:6, 2:6. Gegen Pegula muss die kräftige Weissrussin nun zeigen, dass sie auch den wichtigsten Muskel im Tennis trainiert hat: den Kopf.
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