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Ziel: Haftschäden vermeiden
Zürich und Bern testen eine humanere U-Haft

Jacqueline Fehr, Regierungsraetin und Vorsteherin der Direktion der Justiz und des Innern, informiert neben Berner Sicherheitsdirektor Philippe Mueller ueber den Modellversuch der U-Haft im Ausbildungszentrum Meilen. Die Kantone Zuerich und Bern wollen die Untersuchungshaft reformieren: Ein Modellversuch soll zeigen, wie sich sogenannte Haftschaeden bei Verhafteten verhindern lassen. Der Versuch kostet 12,8 Millionen Franken. 
.21.06.2024
(URS JAUDAS/TAGES-ANZEIGER)
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Aufseher Michel Strübin steht vor einer Gefängniszelle. Die Essensklappe ist offen, der Insasse streckt seine muskulösen, tätowierten Arme raus. «Ich muss unbedingt telefonieren», sagt er, verlangt nach seinem Handy. Strübin geht nicht darauf ein. Erst müssen die Arme rein, sagt er: «Dann komme ich zu Ihnen rein, und Sie schildern mir Ihr Anliegen.»

Wir befinden uns im ehemaligen Bezirksgefängnis Meilen. Es ist seit zwei Jahren geschlossen – und das ist sozusagen ein Glücksfall. Denn in Meilen finden ab August fünftägige Schulungen für Mitarbeitende der Untersuchungsgefängnisse der Kantone Zürich und Bern statt. Hier können Aufseherinnen und Aufseher unter realistischen Bedingungen geschult werden. Die Zellen sind wie echte, bewohnte Zellen eingerichtet.

Die oben beschriebene Szene ist denn auch gestellt. Aber sie entspricht dem, was Aufseherinnen und Aufseher tagtäglich erleben. Ziel der Schulung sei es, Mitarbeitenden Kompetenzen in Gesprächsführung, Bewahrung der Sicherheit und Deeskalation zu vermitteln, sagt Projektleiter und Ausbildner Leberthus Drenth.

99 von 100 Inhaftierten kommen wieder frei

Die Schulungen sind Teil eines gross angelegten, dreijährigen Modellversuchs, in dem die Kantone Zürich und Bern seit vergangenem Oktober die Untersuchungshaft der Zukunft testen wollen. Am Dienstag stellten die Zürcher Justizdirektorin Jacqueline Fehr (SP) und der Berner Sicherheitsdirektor Philippe Müller (FDP) das Projekt vor.

Jacqueline Fehr, Regierungsraetin und Vorsteherin der Direktion der Justiz und des Innern, informiert neben Berner Sicherheitsdirektor Philippe Mueller ueber den Modellversuch der U-Haft im Ausbildungszentrum Meilen. Die Kantone Zuerich und Bern wollen die Untersuchungshaft reformieren: Ein Modellversuch soll zeigen, wie sich sogenannte Haftschaeden bei Verhafteten verhindern lassen. Der Versuch kostet 12,8 Millionen Franken. 
.21.06.2024
(URS JAUDAS/TAGES-ANZEIGER)

Hauptziel des Projekts ist es, sogenannte Haftschäden zu vermeiden. Davon spricht man, wenn die Untersuchungshaft bleibende Probleme verursacht, wie Philippe Müller erklärte. «Und je grösser diese Schäden sind, desto schwieriger und teurer wird die Wiedereingliederung.»

Jacqueline Fehr erinnerte daran, dass 99 von 100 Inhaftierten früher oder später wieder freikommen. Dann seien sie im Idealfall die besseren Nachbarn, Partner und Arbeitnehmende als zuvor. «Damit das gelingt, muss die Wiedereingliederung mit dem Tag der Inhaftierung beginnen.»

Das Umfeld draussen soll intakt bleiben

Der Modellversuch, der von ETH und Uni Zürich wissenschaftlich begleitet wird, beinhaltet sechs Massnahmen. Elf Gefängnisse in den beiden Kantonen nehmen daran teil. Die Schulung der Mitarbeitenden ist eine dieser Massnahmen.

Die wichtigste Veränderung sei das sogenannte Lebensbereichsgespräch beim Eintritt in die Untersuchungshaft, sagte Stefan Tobler, Projektleiter des Versuchs. In diesem Gespräch erkundigen sich Sozialarbeitende nach der Situation des Häftlings: Wie sieht es mit der Partnerschaft aus? Gibt es Kinder zu betreuen? Wer informiert den Arbeitgeber? Wer kann laufende Zahlungen erledigen, Pflanzen giessen, den Goldfisch füttern?

«Wer verhaftet wird, hat in der Regel keine Möglichkeit, solche Dinge zu regeln und sein Umfeld zu informieren», sagt Tobler. Die Folge kann sein, dass die Betroffenen sehr schnell Partnerin, Wohnung oder Arbeit verlieren.

Zwar stand den Inhaftierten schon bisher ein Sozialdienst zur Verfügung. Neu frage man aber aktiv nach und versuche, mögliche Probleme gleich im Ansatz zu verhindern, sagt Tobler. Auf Wunsch können die Sozialarbeitenden auch mit Angehörigen, Vertrauenspersonen oder Arbeitgebern Kontakt aufnehmen.

Das hat zwei Vorteile: Zum einen sind die Häftlinge weniger gestresst, wenn sie wissen, dass draussen das Nötigste geregelt ist. Zum anderen kommen zwei von drei Personen in Untersuchungshaft nach maximal drei Monaten wieder frei – dann sollen sie möglichst nicht vor dem Nichts stehen.

Auch die Kontakte zu Angehörigen versuchen die Gefängnisse künftig aktiv zu fördern. So gibt es neuerdings überall Kinder-Besuchszimmer. Das erleichtert es inhaftierten Vätern, mit ihren Kindern in Kontakt zu bleiben.

Jacqueline Fehr, Regierungsraetin und Vorsteherin der Direktion der Justiz und des Innern, informiert neben Berner Sicherheitsdirektor Philippe Mueller ueber den Modellversuch der U-Haft im Ausbildungszentrum Meilen. Die Kantone Zuerich und Bern wollen die Untersuchungshaft reformieren: Ein Modellversuch soll zeigen, wie sich sogenannte Haftschaeden bei Verhafteten verhindern lassen. Der Versuch kostet 12,8 Millionen Franken. 
.21.06.2024
(URS JAUDAS/TAGES-ANZEIGER)

Eine weitere Massnahme sind interdisziplinäre Teams aus Aufseherinnen, Sozialarbeitern, medizinischem Personal, aber auch Werkstattleitern. Sie besprechen regelmässig, was die Häftlinge brauchen. Mehr Aufmerksamkeit sollen die Mitarbeitenden auch der Planung von Übertritten schenken: Inhaftierte Personen sollen möglichst nicht mehr ohne Vorbereitung und ohne Betreuung verlegt werden oder freigelassen werden.

Und schliesslich steht den Inhaftierten neu ein Onlinetraining bei eigens ausgebildeten Trainerinnen und Trainern offen, in dem sie Strategien zum Stressmanagement erlernen können.

Die Haft an sich wird nicht gelockert

Es gehe bei all diesen Massnahmen nicht um eine Lockerung der Haft an sich, betont Projektleiter Tobler: «Niemand kommt deswegen früher frei.» Der Berner Sicherheitsdirektor Philippe Müller sagt: «Der Zweck der Haft, ein ordentliches Strafverfahren zu gewährleisten, wird dadurch nicht tangiert.»

Es gelte, eine gute Balance finden, sagt Jacqueline Fehr. Denn eines dürfe man nicht vergessen: «Für Untersuchungshäftlinge gilt die Unschuldsvermutung.» Dennoch sei die Untersuchungshaft strenger als der Strafvollzug.

Die Schweiz wurde deshalb auch schon gerügt; 2014 empfahl die Anti-Folter-Kommission dringend Verbesserungen. Einiges hat sich seither getan. So dürfen sich Häftlinge heute in den Zürcher und Berner Gefängnissen normalerweise bis zu acht Stunden am Tag in Gemeinschaftsräumen aufhalten; früher gab es bloss eine Stunde Hofgang pro Tag. Auch Beschäftigungsmöglichkeiten werden fast überall angeboten. Ziel ist es, so weit wie möglich das «echte Leben» zu simulieren.

Der Massnahmen werden bis Ende 2026 getestet. Ein Abschlussbericht soll danach aufzeigen, welche davon sich bewähren. Die Idee ist, dass auch andere Kantone von den Erkenntnissen profitieren können. Die Mehrkosten von etwa 9,5 Millionen Franken teilen sich die Kantone Zürich und Bern und das Bundesamt für Justiz. Die Hauptkosten trägt dabei Zürich mit 5,3 Millionen; auf den Kanton Bern entfallen 1,3 Millionen.

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